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Verklärte Kindheit Wie war ich früher wirklich?

Verklärte Kindheit: ein kleines Mädchen schaut mit einem selbstgebastelten Fernglas hoch in einen Baum
© Yuricazac / Shutterstock
Je weiter wir uns von unserer Kindheit entfernen, desto mehr neigen wir dazu, sie zu verklären. Auch unser jüngeres Ich. Warum der Vergleich mit unseren Kindern unfair ist, warum wir es trotzdem tun und wie es anders geht.

Das Bullerbü-Idyll

Der Mann meiner Freundin muss es schön gehabt haben, als er klein war. Sebastians Erzählungen klingen nach Bullerbü-Idyll und Tütensuppen-Werbespot: Staudämme bauen am Waldrand, im Abendrot schmutzig nach Hause radeln, wo der dampfende Eintopf auf dem Herd steht, Wochenenden im Pfadfinder-Zeltlager. Sein zwölfjähriger Sohn Ben ist da ganz anders. Sportlich, das schon, Tennis, Fußball, Hanteltraining. Aber eigentlich immer mit Hintergedanken an seinen Gaming-PC, an den nächsten Highscore oder Youtube-Spielervideos. Voll computersüchtig! So nimmt es jedenfalls Sebastian wahr und macht sich Sorgen. Meine Freundin macht sich auch Sorgen, aber andere: "Ben sitzt nicht länger am Rechner als seine Freunde, wir haben klare Absprachen für die Medienzeit. Ich habe eher den Eindruck, Sebastian verklärt seine eigene Kindheit – und zwar so, dass Ben nicht mithalten kann."

Ich höre ihr zu und fühle mich ertappt. Bei mir ist es nicht Sport, sondern eher die kreative Ader: Gedichte, Geschichten, Texte habe ich schon in der Grundschule geschrieben, einmal mit viel mütterlicher Hilfe ein Theaterstück zusammengebastelt, das wir sogar geprobt und vor Gästen aufgeführt haben. Da war ich neun. Vielleicht war das einfacher in Zeiten von drei Fernsehprogrammen, weil nicht ständig mediale Verlockungen uns von unseren Vorhaben abbrachten. Auch meinen Kindern hat es nie an Ideen gefehlt für Fantasyromane, Comics, selbstgemachte Hörspiele – aber meist am langen Atem, den es braucht, um über den ersten Absatz hinauszukommen. Und ich? Ich war ein wenig enttäuscht von ihnen.

Wiederum: War Kindsein in den Siebzigern, Achtzigern, Neunzigern wirklich ein permanentes Feuerwerk kreativer Ideen und sportlicher Rekorde – oder sind das doch nur die Highlights, die wie Erinnerungsinseln aus dem oft öden Einerlei herausstechen? Deutlich mehr Zeit als mit dem Schreiben habe ich wohl damit verbracht, Versandhauskataloge durchzublättern, immer wieder meine fünf Asterix-Comics zu lesen oder ein Geschicklichkeitsspiel zu spielen, bei dem man eine Metallkugel auf einer schiefen Ebene an Löchern vorbei navigieren musste. Fiel sie hinein, machte sie einen ohrenbetäubenden Lärm. Stummstelltaste? Fehlanzeige. Meine arme Mutter.

Der Weichzeichner über unserer Kindheit

Woran liegt es, dass sich im Älterwerden nicht nur ein Weichzeichner über unsere Kindheit selbst legt, sondern dass uns auch unser jüngeres Ich oft strahlender, erfindungsreicher, sozialer vorkommt als unsere eigenen Kinder? Anruf bei Pasqualina Perrig-Chiello in der Schweiz. Sie ist Professorin für Entwicklungspsychologie, und sie weiß, aus welchem Stoff unsere Erinnerungen gemacht sind. "Es ist richtig, dass die meisten Menschen ihre Kindheit und Jugend verklären", bestätigt sie meine Ausgangsfrage, "und nicht nur das: Was wir für authentisch halten, ist in Wirklichkeit eine Rekonstruktion in Rückblenden, die wir für unsere Identität, unser eigenes Selbstbild brauchen."

Sprich: Es ist sicherlich richtig, dass der Mann meiner Freundin als Kind viel im Freien getobt hat. Aber unser Hirn setzt eben genau diese Erinnerungen wie Puzzleteile zusammen und ignoriert die anderen, die nicht lückenlos ins Selbstbild passen: Ich bin der leidenschaftliche Outdoortyp/die geborene Schreiberin/der soziale Cliquenmensch. Dass wir unsere Vergangenheit vielfach durch eine rosa Brille betrachten, ist aber dennoch kein Selbstbetrug, sondern eher Zeichen psychischer Gesundheit, sagt Perrig-Chiello: "Diese Sichtweise reguliert unser Wohlbefinden und ist wichtig, um Ja sagen zu können zu unserer eigenen Biografie."

Aber die Psychologin betont auch die Kehrseite: Der positive Blick zurück kann uns selbstgefällig machen. Und genau das ist das Problem an solchen "Also wir haben damals immer"-Sätzen: Sie sind nicht nur die halbe Wahrheit, sondern auch ungerecht. Denn wenn wir uns mit einem Abstand von 30, 40 Jahren zum Beinahe-Wunderkind stilisieren, was wollen unsere Kinder dem schon entgegensetzen? Sie können uns nicht mal das Gegenteil beweisen. Es sei denn, sie finden unsere alten Schulzeugnisse.

Eltern wollen, dass Kinder in ihre Fußstapfen treten

Dabei wollen wir sie ja gar nicht kleinhalten, sondern im Gegenteil, sie motivieren: Wir träumen davon, dass sie in unsere Fußstapfen treten und dabei gleichzeitig eine noch schönere, leuchtendere Spur hinterlassen. "Es ist das Anliegen jeder Generation, das Erreichte weiterzugeben, und es ist menschlich, Wünsche in Kinder hineinzuprojizieren", sagt Perrig-Chiello: Sie sollen höher fliegen, weiter kommen, glücklicher werden. Aber genauso gesund und richtig ist deren Gegenreaktion mit zunehmendem Alter: sich abzugrenzen. Sich ein Feld suchen, auf dem sie sich nicht mit uns Eltern messen lassen müssen. Und dafür ist digital einfach ideal: Die erste echte Internet-Generation ist eben immer drei Schritte weiter, selbst wenn Mama auch schon auf dem 486er-PC Tetris gespielt hat.

Dabei können wir unseren Kindern durchaus mitgeben, was uns von klein auf begeistert, sei es die Liebe zum Lesen, zum Kanufahren oder zu Musikfestivals (wenn sie denn wieder stattfinden dürfen). Nur nicht als alternativlosen Wegweiser, eher als Angebot, das man auch ablehnen kann. Vielleicht erweist es sich später im Leben als Schatz. Nicht wenige laufmuffelige Kinder werden als Erwachsene zu begeisterten Wanderern oder geben einem Instrument mit 27 noch mal eine Chance, nachdem sie sich mit sieben vor dem Üben gedrückt haben. "Entscheidend ist, Vertrauen in die Kompetenzen unserer Kinder zu haben", sagt Perrig-Chiello, "und ihnen die Gelegenheit zu geben, ihre eigene Wirksamkeit zu spüren." Und das passiert häufig eher in Bereichen, in denen Eltern nicht hineinreden können. Weil sie nichts verstehen von Tiktok-Clips oder selbst geschneiderten Mangakostümen.

Der Mann meiner Freundin hat also mindestens drei Möglichkeiten. Kurzfristig: seinen Sohn um eine Einführung in sein aktuelles Lieblings-Game bitten und festzustellen, dass doch mehr Grips dazu gehört als gedacht. Mittelfristig: hoffen, dass Ben von selbst Lust bekommt auf eine sportliche Vater-Sohn-Fernwanderung, auch wenn das noch zehn Jahre dauert. Oder langfristig: auf Enkel hoffen. Denn kaum etwas eignet sich so gut zur Rebellion gegen den eigenen Vater als Opas liebstes Hobby.

Bergweise Erinnerung

Als "Reminiscence Bump" (Erinnerungshügel) bezeichnen Fachleute die Zeit zwischen dem 10. und 30. Lebensjahr, denn die Erlebnisse dieser Phase sind den meisten Menschen bis ins hohe Alter präsent. Grund: In diese Zeitspanne fallen besonders viele prägende Erfahrungen, die wir zum ersten Mal machen – in der Liebe, im Beruf, später oft die Geburt unseres ersten Kindes.

Pasqualina Perrig-Chiello ist eine der bekanntesten Lebenslaufforscherinnen im deutschsprachigen Raum, außerdem Professorin für Entwicklungspsychologie und Familientherapeutin. Sie lebt in der Schweiz.

ELTERN

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