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Sturmfrei Was passiert, wenn ein Kind allein zu Hause bleibt?

Sturmfrei: ein Mädchen hüpft mir einem braunen Hund auf einem Bett herum
© SeventyFour / Shutterstock
Wenn sich das Kind sturmfreie Bude wünscht, ist das erst mal nicht ungewöhnlich. Wenn die Bude aber mehrere Tage und Nächte sturmfrei sein soll und das Kind gerade elf ist, schon. Unsere Autorin Katrin Wilkens sagte tatsächlich Ja zu diesem Experiment. Was dann passierte? Hat sie hier aufgeschrieben.

"Spinnst du?" – Meine Nachbarin ist ehrlich entsetzt. "Du lässt deine Tochter zwei Tage allein? Willst du die Olympiade "supercoole Mutterschaft" gewinnen, oder wem willst du damit etwas beweisen?"

Ein besonderer Wunsch

Meine Tochter Lulu feierte ihren elften Geburtstag. Und hatte, neben Büchern, Klamotten und einem neuen Fahrradkorb einen Haupt-Wunsch: "Ich möchte einmal eine Woche allein hier wohnen. Ohne Eltern und Brüder und Aufpasser." Elf! Als ich elf wurde, habe ich einen Mon Chichi gewollt. Und bekommen. Meine Tochter ist anders. Sie ist die jüngste. Sie hat zwei große Brüder. Für sie ist Selbstständigkeit pures Glück. Und damit bringt sie mich an den Rand meiner Mutter-Kapazität.

Mit fünf Jahren buk sie ihren ersten Kuchen, und ich machte mir in die Hosen vor Sorgen: der elektrische Quirl, die heiße Schokolade, der Herd! Mit acht Jahren wollte sie allein mit dem Bus nach Berlin und log dem Busfahrer beherzt ins Gesicht: "Heute bin ich zehn." Jetzt ist sie elf, und für sie reicht das dreimal, um allein auf sich, das Haus, den Hund aufzupassen. Für sie! Ich verfluche derweil den Segensspruch von Kahlil Gibran, den sie einst zur Taufe bekam. "Deine Kinder sind nicht deine Kinder. Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst." Ist Gibrans Tochter auch so entsetzlich selbstständig gewesen, dass ihr Vater vor lauter Gram sich nicht anders zu helfen wusste, als Kalendersprüche zu dichten? "Du kannst versuchen, ihnen gleich zu sein, aber suche nicht, sie dir gleich zu machen. Denn das Leben geht nicht rückwärts und verweilt nicht beim Gestern."

Ha! Sehr witzig, Herr Gibran. Das mag für Kalenderspruch-Kinder gelten, aber doch nicht für meine Tochter.

Oder doch? Sie hat die späte Kindheit irgendwie übersprungen und ist stets genervt von allem, was ihr vor die Pubertätsnase läuft: regelmäßiges Essen, Ermahnungen, Brüder und vor allem die Einsicht, dass sie noch sehr lange in einem Rudel leben muss.

Was sagt der Gesetzgeber?

"Auf gar keinen Fall eine Woche allein", sage ich mit einer zitternden Restautorität, die meine Angst, meine Sorge, meinen Bammel vertuschen soll. Und es nicht schafft. Lulu riecht den Braten. "Gib zu, Mama, du traust mir das nicht zu!"

"Stimmt", denke ich und sage: "Stimmt doch gar nicht, Schatz, aber schau doch erst einmal, ab wann dir das der Gesetzgeber erlaubt."

"Der Gesetzgeber" wird immer in Fällen von völliger Abwesenheit meines Mannes oder: wenn ich entscheidungsschwach bin, herangezogen, und ich wette, dass meine Tochter eines Tages nach "Gesetzgeber" tindern wird, weil das bei uns die ultimative, letzte, finale Autorität ist.

"Der Gesetzgeber" beziehungsweise der Paragraf 1626 im Bürgerlichen Gesetzbuches lässt mich aber dieses Mal im Stich, weil er sich da, ähnlich feige wie mein Mann, schön von der Verantwortung drückt, Ja zu sagen oder Nein: Wenn ein Kind sich reif genug fühlt, darf es auch eine Zeitlang allein sein. Eine Zeitlang? Ein Kind? Und wann ist die Mutter des Kindes alt genug, um ihre Tochter allein zu lassen?

"Willst du nicht lieber ein neues Handy?", versuche ich es überzeugungsschwach. Lulu ist resolut: "Nein, das verbietest du mir ja sowieso. Ich will allein wohnen. Wenn nicht sieben Tage, dann sechs. Fünf … vier … drei." – Bei "zwei" sieht sie ein leichtes Zucken um meinem Mundwinkel und juchzt auf. "Du hast Ja gesagt. Liebstliebstliebste Mama der Welt." Sie rennt gleich los, um ihren zwei älteren Brüdern das Glück zu verkünden. Mit letzter Kraft rufe ich ihr hinterher: "Aber der Hund bleibt hier." Den kann ich nicht auch noch verräumen. Und außerdem ist Hund Charlie mein einziger Verbündeter bei dem Großabenteuer "Lulu allein zu Haus":

Es ist soweit

Drei Wochen später fahren wir nach Düsseldorf. Zu meiner älteren Schwester. Nicht ohne Grund. Sie hat drei erwachsene Söhne, und ich will bewundert werden, dass ich so saucool bin, obwohl ich es überhaupt nicht bin.

Zuvor kaufe ich für zu Hause allerdings Pizza ein, geht leicht, kriegt sie hin (und reiße trotzdem alle Plastikfolien von den Fertigpizzen, nur um ganz sicher zu sein, dass sie kein Plastik im Ofen schmelzen lassen wird), informiere die Nachbarn (und die Nebennachbarn), sehe zu, dass ihr Handy voller Strom ist (überflüssig, sie wird eh den ganzen Tag daddeln) und klebe ihr zur Vorsicht meine Handynummer an den Kühlschrank. "Jahaa … tschüss“, ist alles, was meine Tochter dieser Gluckenvorsicht entgegnet.

Kurz darauf wird sie den ersten Satz in ihr Tagebuch schreiben, das sie sich extra für dieses Abenteuer gekauft hat und in dem ich später für diese Geschichte mit ihrer Erlaubnis spicken darf. Der erste Satz geht so:

"OMG. Meine Familie ist gerade mit dem Auto weggefahren. Ich mache mir einen Toast mit dieser leckeren Schoko-Nuss-Creme. Das wird ein Hammer-super-guter-derbe-geiler-obermäßig-guter-fantastischer Tag!"

Plötzlich erwachsen

Ich habe mit meinen Kindern das Seepferdchen geübt, ich habe sie allein zur Schule radeln lassen, und jetzt – das erste Mal in unserem gemeinsamen Leben – haben sie mich in ihrer Entwicklung überholt. Ein komisches Gefühl. So wie Doppelt-Altern. Oder Bergab-Laufen. Selbstständig werden bezieht sich immer auf die Kinder, keiner hat bei diesem Vorhaben die Eltern im Blick. Aber die müssen auch selbstständig werden.

"Jetzt, wo meine Familie endlich weg ist, weiß ich nicht genau, womit ich anfangen soll. Also hole ich erst mal Chips."

Als wir Stunden später in Düsseldorf aus dem Auto steigen, widerstehe ich dem Versuch, gleich anzurufen. Oder … vielleicht nur eine kurze SMS …? Nein, lieber doch nicht, soll sie doch erst mal merken, wie das ist, so allein. So allein?? "Mama, soll ich Lulu ’ne Whatsapp schreiben?" Mein zweiter Sohn ist mein Nerven-Sanitäter. Ich nicke erleichtert und höre kurze Zeit später: "Man, was wollt ihr denn schon? Ihr seid doch eben erst losgefahren."

"Ja, wirklich, Anton, lass Lulu mal allein. Das hat sie sich ja schließlich auch gewünscht." Für diese verlogene Falschaussage, durch die er besorgt aussieht und ich wie die gechillte Super-Mom, werde ich ihm später ein doppeltes Eis spendieren. Überhaupt: das Essen. Es spielt in den kommenden Tagen die Hauptrolle. Es scheint, dass man sich weniger sorgen muss, wenn man kaut. Also kaue ich ununterbrochen.

Eine Nacht alleine

Am nächsten Morgen rufen wir um sieben Uhr früh zu Hause an. Lulu – schläft. Der Abend vorher muss lang gewesen sein. "Na, hat denn Charlie bei dir im Bett geschlafen?", versuche ich, ihr eine Brücke zu bauen, eine Ich-weiß-wie-du-dich-mit-Heimweh-fühlst-Brücke. "Nein, Mama, beim besten Willen nicht. Ich pass gerne tagsüber auf Charlie auf. Aber nachts brauche ich meinen Schlaf. Charlie muss in ihr Körbchen." Ich sehe meine Elfjährige vor mir, wie sie mit gespielt tiefer Stimme den Hund auffordert, ins Körbchen zu gehen. Ich sehe, wie sie erstarkt an all den Aufgaben, die sie sich selbst stellt und die ihr dann glücken. Ich gehe erleichtert zum Frühstück, und Lulu schreibt in ihr Tagebuch:

"Nach ein paar Folgen meiner Lieblingsserie dachte ich, es wäre Zeit, mal was Richtiges zu essen zu machen. Also ging ich zum Kühlschrank und holte mir eine Salami-Tiefkühl-Pizza. Die dauerte ewige zwölf Minuten."

"Mama, dürfen wir auch was fernsehen? Schließlich darf Lulu jetzt auch den ganzen Tag?" Mein Ältester nutzt die Stunde meiner Schwäche. "Ja, ihr dürft … Aber nur eine halbe Stunde." Die nächste halbe Stunde starre ich auf mein Handy, just in case, dass Lulu sich verlaufen hätte, ein Wasserrohrbruch wäre oder fremde Menschen im Garten. Da: Rrrrrrrring – ich bin bereits beim ersten Läuten dran: "JaLuluAllesokaybeidir?“ – "Ja, was soll denn sein?", gurrt es zurück. Lulu versteht meine Aufregung nicht. "Wann kommt ihr morgen? – Wegen des Aufräumens." – "Um fünf. Also fang um drei schon mal an." – "Um drei wird nicht reichen, ich muss erst noch den Grill saubermachen … Scherz, Mama, ich hab nicht gegrillt. Nur die Pizza warm gemacht. Die ging aber nicht richtig durch. In der Mitte war sie noch Eis. Bis morgen!"

Das Ende des Experiments

"Zum Erwachsensein gehört es, die eigene Unvollkommenheit zu spüren" – das meine nicht ich, sondern der französische Psychiater Jacques Lacan.

Irgendwie kann ich damit mehr anfangen als mit Kahlil Gibran.

Am nächsten Tag fahren wir beschwingt nach Hause, die Jungs, weil sie vor dem Fernseher vergessen wurden und die Nacht durchgeglotzt haben, und ich, weil ich nun endlich, endlich das Erwachsen-Experiment beenden durfte. Um drei kam die letzte SMS:

"Oh mein Gott, ich fühle mich so erwachsen. Ich meine ich bringe den Müll raus, und wisch den Tisch und räume voll krass auf ;-)."

Wir waren zwei Tage weg, und meine Tochter ist um zwei Jahre älter geworden. Ich leider um 20. Aber es war jede Minute wert. Kein materielles Geschenk kann die Gefühlsdankbarkeit meiner Tochter ersetzen, als sie sieht, wie sich alle mit ihr freuen. Dass sie sich richtig eingeschätzt hatte. Dass sie ein Ziel hatte. Dass sie es durchzog, auch wenn die Pizza ein wenig frostig schmeckte. "Was war denn das Beste an dem Allein-Übernachten?" "Dein Vertrauen in mich, die Ruhe zum Nachdenken, und ich konnte allein entscheiden. Das ist dann die Vorbereitung für später." "Für später?" "Na, wenn ich ausziehe. Das dauert doch nicht mehr lange."

Es gibt Geschenke, die sind semi-gut. Vor allem für den, der sie schenkt.

Selbstständigkeit

Das sagt der Kinderpsychiater

Manche Kinder wollen es mit 15 noch nicht, andere wünschen es sich schon mit 11: mal allein zu Haus sein. Auch über Nacht.

Dr. Sascha Hoffmann, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie analytischer Familientherapeut, erklärt, unter welchen Bedingungen ein solches Experiment gelingen kann:

- Der Wunsch, mal allein sein zu wollen, muss unbedingt vom Kind kommen und nicht von den Eltern "vorgeschlagen" werden.

- Üben Sie vorher mindestens die kleine Runde: Bleiben Sie abends lange aus. Wenn das Kind allein ins Bett gehen kann, ist das schon mal die halbe Miete.

- Die ständige Erreichbarkeit zu den Eltern (Handy) ist ebenfalls Bedingung.

- Mindestens ein Ausweich-Nachbar (besser zwei) sollten informiert – und erreichbar sein.

- Besprechen Sie mit Ihrem Kind, was im Notfall zu tun ist (Schlüssel vergessen, plötzliches Heimweh, Stromausfall)

- Sorgen Sie für Kompensation: Ein voller Kühlschrank ist eine gute Ablenkung.

Selbstständigkeit

Das sagen die Gerichte

Und wenn doch was passiert? Wenn Lulu die Topflappen auf dem Herd liegen ließe – und die halbe Küche abfackelt. Oder das Kind auf dem "Allein-Schulweg" gegen einen parkenden Porsche schlingert.

Sind dann automatisch die Eltern schuld und müssen für jeden Schaden haften?

Ja, Eltern haben eine Aufsichtspflicht – aber nein, das bedeutet nicht: Totalkontrolle. Das wird gerade in jüngeren Urteilen zur Aufsichtspflicht erkennbar: Die Gerichte machten keineswegs in allen Fällen die Eltern verantwortlich, sondern versuchten auch, Mut zu machen, den Kindern mal was zuzutrauen und eben nicht helikopterartig über ihnen zu kreisen. Das Maß der gebotenen Aufsicht bestimme sich "nach Alter, Eigenart, Charakter, weiterhin nach Voraussehbarkeit des schädigenden Verhaltens sowie danach, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen in der konkreten Situation an zumutbaren Maßnahmen treffen", stellte der Bundesgerichtshof fest. Einfacher: Bevor ich mein Kind unbeaufsichtigt lasse, muss ich mir überlegen, ob es reif genug ist, sich entsprechend zu verhalten. Weiß es über mögliche Gefahren Bescheid, kennt es grundlegende Verhaltensregeln? Hat es ähnliche Situationen geübt? Diese Fragen zählen mehr als starre Altersgrenzen. Auch vor Gericht.

Recherche: Carina Frey

ELTERN

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