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Sinneswahrnehmung Wann lernen Babys was?

Sinneswahrnehmung: ein Baby lächelt seine Mutter an
© Monkey Business Images / Shutterstock
Wenn Kinder die ganze Welt zu ihrem Zuhause machen, geschieht dies über ihre Wahrnehmung. Wie das funktioniert, beschreibt ELTERN-Autorin Maike Petersen im dritten Teil unserer Kindergesundheitsserie. Warum die Sinne unverzichtbar fürs Großwerden sind. Und was zu tun ist, wenn sie mal nicht reibungslos arbeiten.

Wie sich die Wahrnehmung entwickelt

Eben hat der zweijährige Ole die alte Nachbarin entdeckt. Sehr langsam kommt sie den Gehweg entlang, mit kleinen Trippelschritten, ein bisschen vorgebeugt – ganz anders als Ole, der gern trabt und hüpft. Jetzt hält er inne und beobachtet sie beim Näherkommen. Sie nickt ihm zu und biegt dann zu ihrem Haus ab. Ole sieht ihr nach, betrachtet seine eigenen Füße – und folgt dann der Frau: sehr langsam, mit kleinen Trippelschritten, ein bisschen vorgebeugt.

Wie der Blondschopf das hinkriegt, ist sehenswert. Es ist aber auch ein Zeugnis der hochkomplexen Leistungsfähigkeit seiner Sinne und seines Gehirns. Als Ole den Blick auf die alte Dame richtet, zeichnen von Lichtreizen aktivierte Sinneszellen ein Mosaik aus unzähligen Bildpunkten auf die Netzhaut seiner beiden Augen. Nervenzellen leiten die Pünktchen bis in die Sehrinde seines Großhirns, wo Millionen weiterer Neuronen sie im Bruchteil einer Sekunde auf Farben, Helligkeit und Zusammenhang prüfen, Nebensächliches aussortieren und das bewegte Bild formen, das Ole so fesselt. Um die alte Dame imitieren zu können, sind allerdings noch andere Sinne im Einsatz: der Gleichgewichtssinn, der Tastsinn in seinen Füßen und seine Körperwahrnehmung, die von Sinneszellen in seinem Körperinneren vermittelt wird.

Unsere Sinne sind Fenster zur Welt und Fühler in unser Inneres. Was wir mit ihnen und durch unser Gehirn wahrnehmen, macht uns zu denen, die wir sind, und die Welt zu der, die wir kennen und auf die wir reagieren. Alles ist von Anfang an angelegt, aber erst durch das, was um uns ist, entwickelt sich unsere Wahrnehmung. Schon vor der Geburt.

Das Fühlen zuerst

Kurz nach der Befruchtung entstehen Sinneszellen in der Hülle des Ungeborenen. Nervenzellen verbinden die winzigen Tastrezeptoren mit dem zentralen Nervensystem. Berührt ein eineiiger Zwilling in der achten Schwangerschaftswoche zufällig den anderen, zucken beide zusammen. Der Embryo beginnt bald, seine eigenen Lippen zu berühren, sich den Daumen in den Mund zu stecken: Training für den Tastsinn und das Gefühl für den eigenen Körper.

Futter für den Geschmacks- und den Geruchssinn gibt’s auch: Das Kind kostet das Fruchtwasser und saugt winzige Mengen mit der Nase ein, sodass Riech- und Geschmackszellen in Kontakt kommen mit Spuren dessen, was die Mutter gegessen und getrunken hat. Offenbar erkennen Neugeborene wieder, was sie schon im Uterus gerochen haben – das schließen Wissenschaftler aus Reaktionen wie intensivem Saugen und Strampeln. Ähnlich verhalten sie sich, wenn sie die Stimme ihrer Mutter hören oder Melodien, die sie aus der Zeit in Mamas Bauch kennen.

Spätzünder sind wir beim Sehen, dem komplexesten Wahrnehmungssinn: Ohne Lichtreize kann sich die visuelle Wahrnehmung nicht entwickeln. Erst in den letzten Monaten vor der Geburt erkennt das Kind Helligkeitsunterschiede, aber an Fernsicht ist noch nicht zu denken.

Nach der Geburt nimmt es die Welt am deutlichsten in etwa zwanzig Zentimeter Entfernung wahr. So kann es die Gesichter der Mutter und des Vaters betrachten, wenn sie es in den Armen halten. Mit vier Monaten kann ein Baby Farbnuancen unterscheiden und bis zu 2,5 Meter weit scharf sehen, seine Augen stellen sich auf immer weitere Entfernungen ein.

Und sein Gehör lernt an der Luft bald auch leise Geräusche und höhere Frequenzen wahrzunehmen. Weil Schallwellen jetzt aus allen Richtungen an seine Ohren dringen, bemerkt es bald an einer Millisekunde Verzögerung an einem seiner Ohren, woher ein Laut kommt, und dreht suchend den Kopf. Im zweiten Halbjahr kennt es bereits typische Laute seiner Muttersprache. Sie spiegeln sich schon im ersten Lallen.

Alles greift ineinander

Immer besser arbeiten die unterschiedlichen Regionen des Gehirns zusammen, die für die Sinne zuständig sind, die Wahrnehmung wird ganzheitlicher: Erst erkundet ein Baby Dinge mit dem Mund, dann mit Fingern und Augen. Und bald weiß es dank seiner Hand-Auge-Koordination schon beim Anblick eines neuen Gegenstands, wie man nach ihm greifen muss. Mit der grobmotorischen Entwicklung reift der Gleichgewichtssinn weiter. Er hilft dem Kind, sein Köpfchen auszubalancieren, und später bei den ersten Schritten. Spiele mit der Balance, Klettern und Schaukeln, beflügeln die gesamte Wahrnehmung, und sobald das Gehirn Sehen und Bewegung in Übereinstimmung bringt, ist das Kind immer sicherer unterwegs. Mit allen Sinnen wirft es sich in die Welt, springt in Pfützen, erkundet neue Wege, betrachtet Kondensstreifen am Himmel, Hunde, Kräne oder eine trippelnde alte Dame. Und trippelt ihr hinterher.

Ist alles in Ordnung?

Ob sich die Sinne altersgemäß ausprägen, haben Ärztinnen und Ärzte vom ersten Tag an im Blick. Gleich nach der Geburt testen sie Reflexe, unwillkürliche Reaktionen auf taktile Reize. Im Mittelpunkt der Früherkennung stehen Hören und Sehen.

Das Gehirn muss sehen lernen

"Bei der Einschulung sind sechs Prozent der Kinder schwachsichtig", sagt Augenarzt Dr. Ludger Wollring aus Essen. "Das hätte man in den meisten Fällen verhindern können." Schwachsichtigkeit (Amblyopie) meint die stark verminderte Sehfunktion auf einem Auge. Sie entsteht, wenn die Augen so unterschiedliche Informationen an das Gehirn schicken, dass es daraus kein scharfes, räumliches Bild formen kann. Dann beginnt das Gehirn, nur noch die Informationen des besseren Auges auszuwerten, und das inaktive schwache Auge verliert dadurch weiter an Sehkraft. "Die für das Sehen zuständigen Hirnregionen werden dann falsch programmiert. Hat ein Kind in den ersten Lebensjahren nicht scharf sehen können, ist dies später kaum aufzuholen. Selbst mit einer Brille wird die volle Sehschärfe nicht mehr erreicht", so Ludger Wollring.

Das größte Risiko für Schwachsichtigkeit ist Schielen. Der Sehfehler lässt sich häufig gut korrigieren: mit einer Brille, die den Schielwinkel verringert und die Sehkraft des schielenden Auges stärkt. Anschließend wird das bessere Auge stundenweise mit einem Okklusionspflaster abgeklebt. Damit wird das schielende Auge wieder zum Sehen gezwungen.

Auch Kinder, die nur sehr leicht schielen oder einen unauffälligen Brechungsfehler wie eine Kurzsichtigkeit oder Hornhautverkrümmung haben, können schwachsichtig werden. Der Essener Augenarzt: "Jedes Kind sollte deshalb vor dem dritten Geburtstag einmal zur Untersuchung beim Augenarzt. Nur eine augenärztliche Untersuchung kann klären, ob ein Kleinkind eine Brille braucht, um richtig sehen zu lernen."

Hilfe für das Gehör

Ob die Ohren intakt sind, wird beim Neugeborenen-Hörscreening getestet. Dabei misst die Ärztin oder der Arzt, ob ein leiser Schall, der mittels einer Sonde mit Lautsprecher in den Gehörgang geleitet wird, die Schwingung im Ohr verstärkt. Wenn dies geschieht, ist alles in Ordnung. Bleibt die Reaktion aus, beeinträchtigen möglicherweise Fruchtwasserreste die Hörfunktion. Zeigt sich auch bei wiederholten Tests keine Schallverstärkung, folgen weitere Untersuchungen. Zwei bis drei von 1000 Kindern werden mit einer Schwerhörigkeit geboren. Dass Einschränkungen so früh wie möglich erkannt und behandelt werden, ist entscheidend für die Ausbildung des Hörzentrums im Gehirn und fürs Sprechenlernen. Schwerhörigen Kindern ebnet ein Hörgerät den Weg dorthin.

Eine andere Art von Hörproblemen fällt oft erst in der Schule auf: eine auditive Wahrnehmungsstörung. Dabei nimmt ein Kind Hörreize über die Ohren zwar problemlos auf, sie werden aber im Gehirn nicht richtig verarbeitet. Oft kann Logopädie die auditive Wahrnehmung verbessern.

Wahrnehmungsstörungen – und Eltern unter Druck

Die Funktion von Augen und Ohren überprüfen Ärzte heute routinemäßig. Eine ungleich größere Herausforderung ist herauszufinden, wie das Gehirn Sinnesinformationen verarbeitet und welche Fehler dabei auftreten. Trotz großer Fortschritte in der Neurowissenschaft gibt es kaum anerkannte systematisierte Untersuchungsverfahren, mit denen sich zentrale Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörungen eindeutig erfassen lassen. Vergleichsweise am besten gelingt es bei auditiven Störungen, teilweise auch bei visuellen. Für Störungen, die den Gleichgewichtssinn, Tast-, Schmerz- oder Temperatursinn umfassen, gibt es kein gültiges systematisiertes Testsystem.

Trotzdem fällt das Stichwort "Wahrnehmungsstörung" besonders oft bei unspezifischen Auffälligkeiten von Kindern: etwa, wenn eines in der Kita stört, wenn es unruhig oder aggressiv ist, nicht zuhört, ungeschickt ist oder anderen in seinen Fertigkeiten hinterherhinkt. Spricht die Erzieherin ihre Vermutung den Eltern gegenüber an, löst das oft Entsetzen und Verunsicherung aus. "Die Eltern haben Angst, dass mit dem Kind etwas grundlegend nicht in Ordnung ist, dass es später keinen guten Schulabschluss erreicht", sagt Dr. Hedwig Freitag, Entwicklungsneuropsychologin und Systemische Therapeutin in Berlin. Sie ist eine der Hauptautorinnen eines umfangreichen Qualitätspapiers der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSJ) zur Wahrnehmungsverarbeitung von Sinnesreizen und deren Störungen. Die Experten kritisieren darin, die zunehmende "Vermessung" von Entwicklung habe dazu geführt, Kinder immer mehr nach Kategorien wie "normal" oder "defizitär" zu bewerten.

Hedwig Freitag rät davon ab, ein Kind auf Teufel komm raus durch sämtliche verfügbaren Testverfahren zu schicken. "Es ist nicht geklärt, ob eine Wahrnehmungsstörung das Leben beeinträchtigen muss. Aber wenn Defizite ans Licht kommen, verändert sich der Blick der Eltern auf ihr Kind. Das kann das Kind sehr belasten", erklärt die Psychologin.

Individuelle Unterstützung braucht ein solches Kind jedoch schon. Die sollte vor allem helfen, den Alltag besser zu bewältigen. Sind etwa wichtige praktische Fertigkeiten beeinträchtigt, kann Ergotherapie helfen. Hedwig Freitag rät dazu, Therapien zeitlich zu begrenzen und konkrete Ziele zu vereinbaren, etwa, dass das Kind nach zehn Stunden einen Stift sicher halten und führen könne.

Manchmal hilft auch einfach Gelassenheit. Denn es kommt auch vor, weiß Dr. Freitag, dass ein Kind nur in einigen Bereichen langsamer ist, in seiner Gesamtentwicklung aber nicht verzögert. "Und drei Wochen später macht es plötzlich einen großen Schritt."

Wow: Pusten hilft wirklich!

Finger geklemmt, aua! Was jetzt hilft, weiß jeder: pusten. Und das ist keine Einbildung: Das Schmerzsystem reagiert auf den sanften Reiz, der von Sinneszellen in der Haut über Nervenfasern zum Rückenmark gelangt. Dort gelangt das Puste-Signal auf einem Seitenast auf die Synapse einer Schmerzzelle: Das Schmerzsignal wird chemisch gehemmt. "Tut gar nicht mehr so weh!"

Feine Näschen

Keiner unserer Sinne nimmt Reize von Geburt an so sensibel wahr wie der Geruchssinn. Dafür sorgen 350 verschiedene Rezeptoren in den 30 Millionen Sinneszellen in der Riechschleimhaut. Farben erkennen wir nur mit drei verschiedenen Arten von Rezeptoren.

ELTERN

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