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Liberale Erziehung Erziehen wir unsere Kinder zu Rotzlöffeln?

Mädchen streckt Zunge raus
© killerb10 / iStock
Mit seinem Buch "Kinder an der Macht" heizt Psychiater David Eberhard die Debatte um die liberale Erziehung neu an. Wir sagen euch, worum es im Buch geht und ob es sich lohnt, rein zu schauen.

"Kinder an der Macht" - ist das noch ein weiterer Erziehungsratgeber für überforderte Eltern?

Nein, im Gegenteil. David Eberhard rät sogar davon ab, Erziehungsberater zu lesen. Über sein Buch sagt er: "Betrachten Sie es als gut gemeinten Rat eines sechsfachen Vaters, der erst während der Arbeit an diesem Buch begonnen hat, Erziehungsratgeber zu lesen. Jetzt habe ich mehr oder weniger alles gelesen. Und ich bin nicht schlauer geworden."

David Eberhard - wer ist das überhaupt?

David Eberhard hat - wie gesagt - sechs Kinder und arbeitet als Psychiater in Stockholm. Außerdem schreibt er Bücher über gesellschaftliche Phänomene, die in Schweden Bestseller sind.

Was hat er an der liberalen Erziehung auszusetzen?

Eberhard wirft den Eltern von heute vor, dass sie sich nicht mehr wie verantwortungsvolle Erwachsene benehmen, sondern wie die besten Freunde ihrer Kinder. Alles werde mit den Kindern ausdiskutiert, überall dürften sie mitbestimmen. "In der heutigen Elternschaft geht es darum, dem Kind auf Augenhöhe zu begegnen. Kurz gesagt: Man muss sich wie ein Kind verhalten."

Was ist daran so schlimm?

Laut Eberhard schaden wir den Kindern damit, weil wir sie nicht auf das Erwachsenenleben vorbereiten. "Die Frage ist doch, ob es menschenwürdiger ist, die Kinder sich selbst zu überlassen oder sie mit mehr oder weniger fester Hand von Anfang an auf den richtigen Weg zu bringen und auf diese Weise auf das Erwachsensein vorzubereiten", schreibt er.

Da würden sicher alle Eltern zustimmen. Warum klappt das dann nicht?

Weil die Eltern ängstlich sind. Sie befürchten bei jedem Verbot und jeder Kritik, ihrem Kind zu schaden oder es zu traumatisieren. "Es ist schon fast so weit gekommen, dass die Erziehung an sich als schädlich bzw. gefährlich betrachtet wird. In konkreten Zahlen ausgedrückt, ist es Kindern noch nie besser ergangen, aber relativ gesehen werden heute schon kleinere Zurechtweisungen und Ermahnungen mit Kindesmisshandlung und Übergriffen gleichgesetzt."

Und diese Angst ist laut Eberhard unbegründet?

Ja. "Kinder sind nicht sonderlich zerbrechlich", sagt Eberhard. "Sie überstehen das meiste. Sie überstehen Ermahnungen und Zurechtweisungen und passen sich der Gesellschaft an." Und dazu gehöre es eben auch, auszuhalten, dass die Erwachsenen bestimmen.

Ein Beispiel?

Eberhard nennt das Beispiel Urlaub: "Wollte unser Vater nach Ostdeutschland, fuhren wir dort hin. Heute ist das ganz anders. Wollen wir nach Thailand oder auf die Kanaren? Das entscheidet William, viereinhalb Jahre, oder Ebba, dreieinhalb Jahre alt." Aber wenn alles nach dem Willen der Kindern ginge, verpassten sie womöglich Erfahrungen, die ihnen neue Perspektiven aufs Leben ermöglichen. David Eberhard sagt, er werde den Urlaub in der DDR und die Lebensumstände der Menschen nie vergessen - besonders nicht den Geschmack des vergorenen Saftes, den er dort getrunken hat.

Okay, auf vergorenen Saft kann man vielleicht auch verzichten ... Welche anderen Folgen nennt Eberhard?

Indem wir die Kinder in Watte packen und sie alles bestimmen lassen, schaden wir ihnen, meint Eberhard. Weil sie mit den Entscheidungen überfordert sind. Und später mit Hindernissen nicht mehr umgehen könnten. "Je weniger man darauf vorbereitet ist, dass Widrigkeiten auftauchen können, desto schwieriger erscheinen sie einem, wenn sie doch auftreten."

Ein "Nein" stürzt sie dann plötzlich in die Krise.

Genau. Ebenso wie Kritik. Denn aus Angst, ihrem Kind zu schaden, trauten sich viele Eltern nicht, ihr Kind zu kritisieren. "Aber so ziehen wir freche Rotzlöffel heran, die ein völlig falsches Bild von ihren Fähigkeiten mit auf den Weg bekommen", so Eberhard im Interview mit der Zeit.

Was will Eberhard von den Eltern? Zurück zur Erziehung der 50er?

Das nicht direkt, aber er vermisst vieles "von früher". Gutes Benehmen zum Beispiel, ja, auch bei Tisch. Aber vor allem die Solidarität unter den Eltern. "Früher gab es eine Gemeinschaft der Erwachsenen. Man hatte die gleichen Werte, was die Erziehung anging. Wenn sich ein Kind danebenbenahm, ging man hin und sagte: Hör auf damit! Diese Übereinkunft gibt es nicht mehr. Wir Erwachsenen stehen nicht mehr füreinander ein, wir stehen nur noch für unsere Kinder ein."

Und das sorgt dafür, dass sich Erwachsene ständig gegenseitig kritisieren.

Ja, und die Kritik anderer auch nicht mehr annehmen. Er nennt das Beispiel eines Jungen, der in der Schule keinen Anschluss findet, weil er andere schlägt und mobbt. Als die Lehrer die Mutter darauf ansprechen, verweigert sie sich den Ratschlägen. Stattdessen ist sie der Meinung, dass ihr und ihrem Jungen Unrecht getan wurde. Doch so ist am Ende weder ihr noch dem Jungen geholfen. Was rät David Eberhard den Eltern? Seid nicht so ängstlich und übernehmt wieder das Steuer in der Erziehung. Und lasst euch nicht von den vielen Erziehungsratgebern verrückt machen. Und sollten wir sein Buch trotzdem lesen? Eberhards Buch ist interessant und liefert viele Denkanstöße. Wer aber ähnliche Bücher wie Michael Winterhoffs "Warum unsere Kinder Tyrannen werden" gelesen hat, wird nicht viel Neues finden.

Dieser Artikel ist zuerst erschienen bei BRIGITTE.de.


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