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Känguruhen Mamas und Papas Wärme fördert Frühchen-Entwicklung

Känguruing
Känguruing
© IvanJekic / iStock
Die moderne Frühchenversorgung bindet die Eltern heute stärker in die Pflege der unreif geborenen Babys ein. Viel Nähe und Wärme sind dabei besonders wichtig. Beim Känguruhen darf das unbekleidete Baby auf der nackten Brust von Mama oder Papa kuscheln. Mittlerweile ist bewiesen, dass der Hautkontakt die Überlebenschancen der Frühgeborenen steigert.

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Was genau ist Känguruhen?

Beim Känguruhen oder Känguruing wird das nackte Frühgeborene auf den nackten Oberkörper der Eltern gelegt. Die Körpertemperatur der Eltern wärmt das Kind. Sie werden gewissermaßen zum lebenden Brutkasten. Um die Wärme zu halten, wird das Kind zugedeckt. Je nach Ausstattung der Frühchen-Station, sitzen oder liegen Mama oder Papa dabei in einem bequemen Liegestuhl oder im Bett.
Häufig steht der Begriff Känguruhen auch für das gesamte Frühchen-Pflegekonzept. Es beinhaltet neben dem regelmäßigen, und langen Hautkontakt zwischen Baby und Eltern auch das frühe Stillen, die psychologische Unterstützung der Mutter sowie das Ziel einer zeitigen Entlassung aus der Klinik.

Woher stammt der Begriff?

Ein Känguru-Junges kommt gewissermaßen immer als Frühgeburt auf die Welt. Es entwickelt sich erst im Beutel der Mutter zum selbständig lebensfähigem Tier. Hier bekommt es Wärme, Schutz und über die im Beutel befindlichen Zitzen, seine Nahrung. Auch beim Känguruhen kann das Frühchen in engem Hautkontakt das nachholen, was es zur Reifung noch braucht. Die warme, liebevolle und geschützte Umgebung und die immer präsente Möglichkeit, an der Brust zu trinken, helfen ihm dabei. Auch im Englischen gibt es den Begriff Kangaroo Care (KC) oder Kangaroo Mother Care (KMC).

Wieso hilft das Känguruhen dem Frühchen?

Känguruhen: Mamas und Papas Wärme fördert Frühchen-Entwicklung
© Klinikum Bayreuth GmbH

Wissenschaftliche Untersuchungen haben belegt, dass das frühgeborene Baby auf vielfältige Weise vom Känguruhen profitiert. An erster Stelle steht die Wärme, die überlebensnotwendig ist, da ein Frühchen seine Körpertemperatur noch nicht selbständig halten kann. Einen positiven Effekt haben aber auch der Herzschlag der Eltern, ihr Geruch, ihre Atemgeräusche und ihre Stimme. Neben dem Hör- und Geruchssinn werden durch den großflächigen Hautkontakt auch der Tastsinn und, durch die Bewegungen der Eltern, der Gleichgewichtssinn stimuliert.
In den vergangenen Jahren konnten Studien nachweisen, dass das Känguruing auch die Milchbildung der Mutter anregt, die Atmung des Babys stabilisiert und einen positiven Effekt auf Herzfrequenz, Körpertemperatur und den Aufbau des Immunsystems hat. Frühchen, die regelmäßig die Nähe ihrer Eltern tanken dürfen, schlafen außerdem ruhiger und regelmäßiger und schreien weniger. Eine 2016 veröffentlichte Metastudie kam zu dem Ergebnis, dass bei Frühchen, die regelmäßig känguruhen durften, die Sterblichkeitsrate um 36 Prozent geringer war als bei Frühgeborenen, die nicht mit der Känguru-Methode versorgt wurden.

Welche Effekte hat das Känguruing auf die Eltern?

Nach der Geburteines reifen Babys bekommt die Mutter das Kind in der Regel auf die Brust gelegt. Mutter und Kind sind nah beieinander. Sie spüren sich, sehen sich, riechen sich, genießen die Nähe des anderen, lernen sich vorsichtig kennen. In dieser Situation schütten Mutter und Säugling das Hormon Oxytocin aus, das dieMutter-Kind-Bindung begünstigt. Bei einer Frühgeburt steht dagegen die medizinische Versorgung im Mittelpunkt. Mutter und Kind werden meistens direkt nach der Entbindung getrennt und das Frühchen auf der Frühgeborenen- oder Intensivstation versorgt. In den folgenden Wochen übernimmt der Brutkasten die Aufgabe, die der Körper der Mutter am Ende der Schwangerschaft erfüllt hätte. Oft muss das Baby beatmet und künstlich ernährt werden. Viele Mütter von Frühchen empfinden die Situation als großen Verlust, entwickeln Schuldgefühle, leiden seelisch und körperlich unter der fehlenden Nähe zu ihrem Baby und sind, ebenso wie die Väter, in ständiger Sorge um sein Überleben.
Das Känguruhen hilft vor diesem Hintergrund nicht nur dem Kind, es gibt auch den Eltern das Gefühl, für ihr Kind da sein zu können. Mutter und Vater stehen nicht hilflos neben dem Brutkasten, sondern können aktiv etwas tun, um ihrem Kind zu helfen, sich zu entwickeln und gesund zu bleiben.
Das Känguruing fördert darüber hinaus auch die frühe Mutter/Vater-Kind-Bindung. Denn die medizinisch oft notwendige Trennung von Frühgeborenem und Mutter, führt häufig zu langfristigen Störungen der Bindung und zu Schwierigkeiten beim Stillen.
Väter berichten, dass sie durch die langen Kuschelphasen mit ihrem Baby, eine viel intensivere Beziehung aufbauen konnten. Denn unter normalen Umständen, nehmen sich Papas häufig nicht die Zeit, ihrem Baby so viel unmittelbare körperliche Nähe zu geben. Schon durch das Stillen, übernimmt diese Aufgabe eher die Mutter.

Seit wann gibt es das Känguruhen?

Das Känguruing stammt ursprünglich aus Kolumbien. Aus einem Mangel an Brutkästen (Inkubatoren), legten zwei Kinderärzte 1979 Frühgeborene zwischen die Brüste der Mütter. Sie glaubten, dass dies der sicherste Platz für das zu früh geborene Kind ist. Dort hatte das Baby es warm, konnte gut atmen und seine Überlebenschancen stiegen. Seitdem wird der Haut-zu-Haut-Kontakt von Frühchen und Eltern weltweit immer häufiger in die Frühchenversorgung integriert.
In Deutschland wird Känguruing seit den 1980er Jahren angeboten. Eine Pionierin der sanften Frühgeborenenpflege ist die Wiener Neugeborenenmedizinerin Marina Marcovich. Das von ihr entwickelte Pflegekonzept wurde auch als die Methode Marcovich bekannt und war damals sehr umstritten. Konventionelle Mediziner fürchteten, die Frühchen würden unnötig in Lebensgefahr gebracht, wenn man sie aus dem Brutkasten nimmt.

Welchen Effekt hat das Känguruhen auf die Atmung des Frühchens?

Da die Lungen von Frühchen noch nicht ausgereift sind, kommt es häufig zu Atemaussetzern. Werden Babys häufig aus dem Brutkasten genommen und in der leicht aufrechten Position beim Känguruing gehalten, scheint sich die selbständige Atmung schneller zu entwickeln. Stimulierend wirken neben der Position des Kindes auch die Bewegung der Eltern und eine Beruhigung des Frühchens durch die bloße körperliche Nähe.

Wie lange dauert das Känguruhen?

Pauschal lässt sich sagen, je länger, desto besser. Bei Kindern, die eine Atemunterstützung haben, künstlich ernährt werden und zusätzlich an Überwachungsgeräten angeschlossen sind, dauert alleine die Vorbereitung der Umlagerung vom Inkubator auf die Brust von Mama oder Papa einige Zeit. Damit dann alle zur Ruhe kommen und den Hautkontakt intensiv genießen können, sollte das Känguruhen mindestens eine Stunde dauern. Natürlich kann die Kuscheleinheit auch länger sein, wenn medizinisch nichts dagegenspricht und Mama oder Papa es bequem haben. Ilse Wittal, stellvertretene Pflegedirektorin am Klinikum Bayreuth empfiehlt eine Zeitspanne zwischen 70 und 120 Minuten. Die Berliner Kinderärztin Sabine Nantke und die Psychologin Uta Streit plädieren in dem Buch „Fähigkeit zum Körperkontakt“ (2015) dafür, den Körperkontakt bereits auf der Intensivstation mehrmals täglich durchzuführen.

Der Bundesverband „Das frühgeborene Kind“ kritisiert, dass die Känguru-Zeit aus personellen, organisatorischen und räumlichen Gründen auf deutschen Frühgeborenenstationen immer noch viel zu kurz sei.

Für welche Frühchen ist Känguruing geeignet?

Das Känguruhen wird auf den meisten Frühgeborenenstationen zusätzlich zu einer konventionellen Versorgung angeboten. Die Voraussetzung ist das Einverständnis der Eltern und die Stabilität des Kindes. Der südafrikanische Arzt Nils Bergman übt Kritik an dieser Vorgehensweise. Er argumentiert, dass viele Frühgeborene eben deshalb nicht stabil sind, weil ihnen das Känguruing vorenthalten wird. Auch Frühchen, die medizinisch versorgt und überwacht werden müssen, sollten möglichst viel Zeit auf der nackten Brust der Eltern verbringen, so Bergmann. Es müsse ein Umdenken stattfinden. Er fordert, alles was nötig ist, zu Mutter und Kind zu bringen und nicht umgekehrt das schwache Frühchen von der Mutter getrennt im Inkubator zu versorgen.

Besteht die Gefahr einer Überhitzung des Babys auf der elterlichen Brust?

Kuscheln mit Baby
Kuscheln mit Baby
© IvanJekic / iStock

Die südafrikanische Neoantologin Elise van Rooyen hat herausgefunden, dass die Hauttemperatur der Mutter sich nahezu perfekt auf die Bedürfnisse des Babys einstellt. Dies geschehe durch das Bindungs-Hormon Oxytocin. Es wird ausgeschüttet, sobald die Mutter in engem Kontakt mit ihrem Baby ist, es riecht, auf der Haut spürt, es sieht.  Mamas Körper sei in Sachen idealer Temperatur noch genauer als ein Inkubator.

Ab wann kann Känguruing eingesetzt werden?

Der südafrikanische Arzt Nils Bergmann und andere Forscher plädieren dafür, dem frühgeborenen Baby direkt nach der Geburt den Hautkontakt zu Mutter oder Vater zu ermöglichen. Denn die Trennung verursache Stress für das Baby, der es zusätzlich in Gefahr bringe.
Nach einer 2012 durchgeführten Studie sieht die Praxis in deutschen Geburtsklinken anders aus. In der Regel vergehen mehrere Tage, bevor das Frühchen auf die nackte Brust der Mutter gelegt wird. Viele Frühchenstationen lassen die Babys erst ab einem bestimmten Mindestgewicht oder einer Mindestgröße känguruhen.

Ist Känguruing für übersensible Kinder ungeeignet?

Es gibt einige Kinder, die bei den ersten Körperkontakten mit Mutter oder Vater gestresst reagieren und durch die plötzliche Veränderung der Umgebung übererregt sind. Doch auch wenn dies bei den ersten Versuchen geschehe, so Kinderärztin Sabine Nantke, sei es fatal, den Körperkontakt abzubrechen oder ganz zu beenden. Bei diesen Kindern sei es vielmehr wichtig, die Umlagerung vom Inkubator auf die Brust noch langsamer und behutsamer zu gestalten. Außerdem sollten gerade diese Kinder möglichst lange auf der nackten Haut der Eltern liegen, um ihnen die Chance zu geben, sich an den Hautkontakt zu gewöhnen und ihn mit einem positiven Gefühl zu verknüpfen.

Ist Känguruing auch etwas für „normale“ Babys?

Der südafrikanische Experte für das Konzept Kangaroo Mother Care (KMC), Dr. Nils Bergmann, findet, dass nicht nur Frühchen direkt nach der Geburt auf der Brust der Mutter belassen und gegebenenfalls dort versorgt werden sollten. Die Trennung von Mutter und Kind stresst beide auch, wenn ein gesundes, voll ausgereiftes Kind auf die Welt kommt. Er ist überzeugt, dass viele Bindungs- und Stillprobleme vermieden werden könnten, wenn Mutter und Kind nach der Geburt ausgiebig Nähe tanken dürfen. Und auch später könne ein Baby nie zu viel Hautkontakt von Mutter und Vater bekommen.
Eine besondere Situation stellt der Kaiserschnitt dar. Wenn die Mutter körperlich nicht in der Lage ist, das Baby auf die Brust gelegt zu bekommen, könne die Aufgabe auch der Vater übernehmen, so Bergmann. Das Neugeborene darf auf Papas nackten Oberkörper liegen und wird zusätzlich mit Tüchern oder dem Hemd des Vaters zugedeckt.

Wird beim Känguruing immer gestillt?

Beim Känguruing ist das Stillen in jedem Fall das Ziel. Sehr kleine Frühchen werden aber zunächst mit abgepumpter Muttermilch über eine Magensonde ernährt. Dabei wird der Saugreflex mit einem Schnuller stimuliert. Ab der 32. SSWkönnen erste Trinkversuche gemacht werden. Ab der 34. SSW können gesunde Frühchen während des Känguruings normal gestillt werden oder aus der Flasche trinken.

Was ist neben dem Känguruing noch wichtig für das Frühchen?

Viele Frühchenstationen arbeiten heute nach dem Konzept der entwicklungsfördernden Pflege. Die Bedürfnisse des unreifen Babys werden dabei absolut in den Mittelpunkt gestellt. Dazu gehört, dass das Kind vor grellem Licht, zu lauten Geräuschen und der Hektik des Klinikalltags geschützt wird. Seine Vorlieben und Abneigungen werden genau protokolliert und das Wickeln, die Nahrungszufuhr, die Lagerung und die medizinische Betreuung darauf abgestimmt. Der direkte und häufige Kontakt zu den Eltern über Känguruing, Baby-Massagen und andere Maßnahmen wird gefördert. Die notwendigen Routinen passen sich dem Kind an und nicht umgekehrt.

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