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Kinderernährung Im Reich der Dauermampfer

Kind sitzt im Buggy und isst einen Keks
© freemixer / iStock
Auf Spielplätzen, in der Bahn oder im Zoo - überall bietet sich das gleiche Bild: Kleinkinder mit Reiswaffel in der Hand oder an einem Brötchen mümmelnd. ELTERN-Autorin Greta Mitterweiß findet es schlecht, wenn Kindern ständig etwas in den Mund gestopft wird.

Bei uns hießen sie Dosenbrote. Wegen der Verpackung in für Generationen wiederverwendbaren Transportboxen aus Metall. Dosenbrote wurden geschmiert, wenn lange Autofahrten anstanden. Ab drei Stunden aufwärts. Wir bekamen Dosenbrote zu Schulausflügen mit. Mein großer Bruder wurde damit ausgerüstet, wenn er ins Internat zurückfuhr. Dosenbrote waren gegen Hunger, den echten. Und Dosenbrote waren köstlich. Auch noch mit angeschmolzener Butter und an den Rändern welliger Salami. Heute sind Dosenbrote leider vom Aussterben bedroht. Hoffnungslos altmodisch, so eine Stulle aus echtem Brot. Ist ja gegen Hunger, nicht gegen Appetit.

Reiswaffel-Horror

Dosenbrote werden verdrängt von allen möglichen Schnitten, mit Milch und ohne. Handlich klein und fix und fertig verpackt in bunt bedruckter Silberfolie mit Aufreißbändchen. Nix schneiden und belegen, nur einstecken. Wer im Kinderwagen sitzt, wer Händchen hat, die etwas packen können, darf auf keinen Fall der Unbehaglichkeit eines kleinen Appetits ausgeliefert werden. Deshalb beginnt nach der Stillzeit oder der Fläschchenphase die Fütterung wie am Dauertropf.
Pausen zwischen den Mahlzeiten? Gar die ehemals als ideal angedachten drei, vier Stunden zwischen den Magenfüllungen? Das scheint spätestens ab dem ersten Geburtstag eine milde Form der Kindesmisshandlung zu sein. Und so werden auch ernährungstechnisch korrekte Eltern Opfer zum Beispiel der Reiswaffel. Die bierdeckelgroßen Scheiben bröseln allgegenwärtig die Bezüge von Kindersitzen voll und polstern jeden Buggy auf doppelte Sitzhöhe. Butterkekse gibt es klein und in Tierform, damit, ratzfatz, Bär oder Affe zur Hand ist, wenn das Kind Unbehagen äußert.

Brezel-Bande

Und natürlich Brezeln. Winzige Händchen halten das griffige Backwerk, zarte Gaumen lutschen es so lang zurecht, bis es die Konsistenz eines betagten Saugers aus Naturkautschuk hat. Aber wie gut, dass man sich da um die Gesundheit der Kleinen keine Sorgen machen muss. Anders als Babybrei im Glas werden Brezeln nicht akribisch untersucht. Also gibt es keine bis ins Nanogramm genaue Info darüber, welche Chemie in der Lauge steckt (viel!). Schaden richten ja offenbar nur die Salzspuren im Babygläschen an, die großen Brocken auf der Brezel lösen nichts aus außer Durst. Und der kann bekämpft werden, auch weitab von der heimischen Wasserleitung. Der Fläschchenköcher am Kinderwagengriff - eine geniale Erfindung für die gefährlichen Reisen durch wüstenartige Fußgängerzonen.

Hungerkünstler

Fachleute für Kinderernährung wohnen offenbar im Elfenbeinturm. Aus dem heraus empfehlen sie immer noch drei große Mahlzeiten pro Tag und zwei kleine Zwischengerichte. Dazwischen? Nichts! Und keine Informationen dazu, wie das ein Kind aushalten soll. Zumal die studierten Ernährer einen Apfel oder ein Naturjoghurt als Zwischenmahlzeit empfehlen, keine Schnitten und kein Brezelchen. Und was sie noch, auf Studien gestützt, behaupten: Es ist nicht gut für kleine Mägen (für große übrigens auch nicht), wenn von oben ständig nachgefüllt wird.
Bekommt stattdessen der Verdauungstrakt die Chance, seine Arbeit sorgfältig zu machen, ohne Störfeuer ungeregelten Nachschubs, fühlt sich der ganze Mensch wohler. Der Magen lässt seine Säfte los, bearbeitet das Angebot und leitet es anschließend weiter. Jetzt ist der Darm dran, er holt alles aus der Nahrung, die der Mensch braucht. Kommt von oben längere Zeit nichts mehr nach zum Bearbeiten, taucht aus der Tiefe des Bauches ein Gefühl auf, das Hunger heißt.
Menschen um die 30 erinnern sich vielleicht noch dran: Hunger, das ist dieses Grummeln nach drei Stunden im Schwimmbad, nach einem Nachmittag Baumhausbau, einem Fahrradausflug. Menschen dieser Generation wurden ohne Lunchpaket in solche Abenteuer geschickt. Und bei der glücklichen Heimkehr hat man sie auch noch gehindert, sich aus dem rettenden Kühlschrank zu bedienen. "In einer halben Stunden gibt's Essen", hieß es. Überlebt haben das nur die ganz Harten.

Sandkasten-Futter

Diese ganz Harten sind es sicher auch, die es wagen, den eigenen Kindern eine Hungerphase bis zu einer Stunde zuzumuten. Was bedeutet: Die Harten packen für den Ausflug zum Spielplatz (wahlweise auch für die 80-Kilometer-Fahrt zur Oma) höchstens Wasser ein. Nichts zu beißen, keine Reiswaffeln, keinen Kinderkeks, keinen Früchteriegel. Nur Schippe und Sandförmchen (wahlweise Bilderbuch für die Autofahrt).
Was dann passiert, ist schrecklich. Sollte das arme Kind nicht schon auf dem Hinweg vollkommen unterzuckern, kommt es nach spätestens zwei Minuten Sandkasten zum Anfall. Alle anderen schaufeln - Sand und sich den Mund voll. Saftbärchen mit reinem Fruchtzucker, ohne Farbstoff (Apothekenware!), Schnitten mit und ohne Schokolade, Kekse, Reiswaffeln. Ein steter Strom an Kalorien fließt aus den mütterlichen oder väterlichen Rucksäcken, damit es den Kleinen an nichts fehlt. Und mittendrin das Kind der Harten, verzweifelt nach Essbarem ausschauend, neidisch brüllend.
Wer kann großen, hungrigen Kinderaugen schon widerstehen? Generös wird das arme vernachlässigte Kleine mitversorgt ("Wir haben genug, macht nichts, dass deine Mama - dein Papa - dein Essen vergessen hat."). Nur wer für sein Kind eine Karriere als Hungerkünstler andenkt, wagt sich ein zweites Mal ohne Proviant an den Sandkasten. Dem Hunger vorauseilend, bekommt auch das eigene Kind seine Häppchen, wir müssen ja schließlich nicht betteln. Und auf die kurzen Autofahrten nehmen wir jetzt reichlich mit. Quengel-Ware.

Hab's satt, bin satt

Und wie geht das weiter? Mit Essen in allen Lebenslagen. Coffee to go und Pizza von Pappe, Popcorn zum Film und Chips zur Glotze. Der Mund muss immer voll sein. Kauen beschäftigt und tröstet. Hunger gehabt oder eine andere Not? Weiß nicht mehr, hab was im Mund, schluck es runter.


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