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Gewalt gegen Kinder "Schlagen ist nie gerechtfertigt"

Gewalt gegen Kinder: ein kleines blondes Mädchen schaut traurig aus dem Fenster
© altanaka / Shutterstock
Ohrfeigen, auf den Po hauen, erpressen und anschreien – das machen Eltern heute doch nicht mehr! Oder? Leider doch. Gewalt in der Erziehung findet in Familien zwar seltener statt als noch vor 20 Jahren, aber immer noch öfter als viele glauben. Das zeigt auch eine aktuelle Studie.

"Schlagen ist nie gerechtfertigt"

Und fast gar nicht auf dem Radar haben viele Eltern in Deutschland offenbar die psychische Gewalt – meint Prof. Jörg M. Fegert. Er ist Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uniklinik Ulm und war federführend bei der oben genannten Studie, für die 2500 Männer und Frauen befragt wurden.

ELTERN Family: Eine knappe Mehrheit der Befragten in Ihrer Untersuchung hält "leichte" Körperstrafen für eine probate Erziehungsmethode. Schockiert Sie das?

Prof. Jörg M. Fegert: Ich hätte mir natürlich gewünscht, dass die Zustimmung geringer ausfällt. Körperliche Strafen sind verboten, auch der Klaps auf den Hintern. Aber vielleicht muss man eher das halb volle als das halb leere Glas sehen. In einer ähnlichen Befragung von 2005 gaben noch mehr als drei Viertel der Befragten an, dass sie einem Kind schon mal einen Klaps auf den Hintern gegeben haben. Es tut sich also etwas.

Sie meinen, viele Menschen haben ihre Einstellung schon geändert?

Ja, seitdem das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung im Jahr 2000 im Bürgerlichen Gesetzbuch verankert wurde, ist der Anteil der Menschen, die Körperstrafen anwenden, stark gesunken. Anfangs wurde das Gesetz ja als Symbolpolitik belächelt, aber heute wissen wir: Es hat ganz klar etwas bewirkt! In der Bevölkerung hat sich eine neue Haltung entwickelt. Früher wurde Erziehung als reine Privatsache angesehen, inklusive elterlichem Züchtigungsrecht. Da hat man sich lieber nicht eingemischt. Mit der Gesetzesänderung wurde dem Elternprivileg eine Art Wächteramt der Gesellschaft gegenübergestellt. Wenn einer Mutter oder einem Vater die Hand ausrutscht, sind wir alle dazu aufgerufen, das nicht hinzunehmen. Und wir sehen: Die Menschen sind da deutlich aktiver geworden. Nachbarn, Verwandte, Erzieher und Lehrer schauen immer öfter hin, wenn es einem Kind in der Familie nicht gutgeht.

Trotzdem gehören Klapse und Ohrfeigen noch immer zu den gängigen Erziehungsmaßnahmen …

Das stimmt, gerade diese "leichten" Körperstrafen bleiben bei einem erschreckend großen Teil der deutschen Bevölkerung akzeptiert. Wir müssen davon ausgehen, dass sie zumeist auch hinter verschlossenen Türen passieren. Wir sehen leider auch keine große Verbesserung mehr seit 2016, die Zahlen stagnieren mehr oder weniger. Da wurde ein Plateau erreicht, auf dem wir uns nicht ausruhen dürfen.

Warum ist es so schwierig, hier wirklich eine Kehrtwende zu schaffen?

Auch wenn die rechtliche Grundlage für Körperstrafen weggefallen ist, so leben wir noch immer in einem Land, in dem das patriarchale Denken eine jahrtausendealte Tradition hat. Bis vor wenigen Jahren hatten Männer und Väter die Macht in Familie und Gesellschaft, und sie wurde mit Gewalt ausgeübt. Es dauert einfach sehr lange, bis eine ganze Gesellschaft ihr Denken verändert hat. Interessanterweise gelingt das den Frauen besser als den Männern. Eines der Ergebnisse unserer Studie ist: Männer stimmen dem Klaps auf den Hintern deutlich häufiger zu als Frauen. Hoffnungsfroh stimmt auch, dass die jüngeren Befragten Körperstrafen deutlich häufiger ablehnten als die Befragten über 60 Jahre. Die aktuelle Elterngeneration ist also schon viel sensibler dem Thema gegenüber als die Großelterngeneration.

Welche Schlüsse ziehen Sie aus solchen Ergebnissen?

Zum Beispiel, dass wir uns vor allem um die jungen Männer kümmern müssen. Gerade wenn sie selbst als Kind Gewalt erlebt haben, steigt das Risiko, dass sie selbst gewalttätig gegenüber ihren Kindern werden. Das Erziehungsvorbild spielt hier eine große Rolle. Wir müssen klarmachen, dass das eben kein geeignetes Vorbild ist. Auch hier kommt die Gemeinschaft wieder ins Spiel. Wenn andere Eltern auf dem Spielplatz einschreiten, weil ein Vater sein Kind anschreit oder grob anfasst, hat das einen viel größeren Effekt als jede Plakat-Aktion. Wir müssen noch viel mehr nach außen vertreten, dass Gewalt – in welcher Form auch immer – ein absolutes No-Go ist.

Wo kann man noch ansetzen, damit wir das jetzige Plateau überwinden?

Ich bedauere es sehr, dass es die Kinderrechte nicht ins Grundgesetz geschafft haben, so wie es die zurückliegende Koalition eigentlich vorhatte. Es ist eines der großen gescheiterten Projekte dieser Regierung. Da müssen wir weiter Druck machen, obwohl auch da viele von Symbolpolitik sprechen. Ich sehe das anders. Kinderrechte gehen ja weit über die körperliche Unversehrtheit hinaus. Klar ist die gesetzlich schon jetzt bei uns geschützt. Aber was ist mit dem Recht auf Persönlichkeitsentwicklung, auf emotionale Gesundheit, auf eine gute Zukunft? Wir brauchen die Kinderrechte dringend als Entwicklungsrechte!

Ist das auch eine der Lehren aus der Corona-Pandemie?

Absolut! Es ist doch verrückt, dass man sich in dieser Krise zuerst Sorgen um die Zukunft der Airlines und der Baumärkte machte, aber nicht um die der Kinder. Wir haben sehr früh darauf hingewiesen, welche desaströsen Folgen die Schließung der Schulen, Kindergärten und aller Freizeiteinrichtungen für Kinder und Jugendliche haben würden. Wenn sich plötzlich alle Gruppen auflösen, die Kindern Halt, Struktur und Freude geben, geht das nicht spurlos an ihnen vorüber. Das hatten und haben die Politiker viel zu wenig im Blick.

Wo wir gerade beim Thema Corona sind: Bei vielen Familien liegen in dieser Zeit die Nerven blank. Haben Sie Verständnis dafür, dass Eltern in einem Moment der Überforderung mal die Hand ausrutscht?

Ich habe absolut Verständnis dafür, dass Eltern die Situation über den Kopf wächst. Das Leben ist gerade wirklich schwierig und stressig. Aber in Sachen Gewalt ist meine Antwort kategorisch: Schlagen ist nie gerechtfertigt! Das ist die Norm, die wir verinnerlichen müssen, und da rücke ich keinen Millimeter von ab. Wenn Eltern in einem Moment völliger Überforderung trotzdem mal ihr Kind ohrfeigen, müssen sie den Fehler bei sich suchen, nicht beim Kind. Es ist eine Frage der Haltung: Erkenne ich den Ausrutscher als mein eigenes Scheitern an? Oder mache ich mein Kind dafür verantwortlich, weil es mich angeblich ärgern, zur Weißglut, in den Wahnsinn treiben will? Der nächste Schritt ist, dass ich mir Hilfe hole! Dass ich dafür sorge, dass ich eine Pause bekomme und durchschnaufen kann. Das ist die Art, mit der Eltern Verantwortung für ihre Familie übernehmen müssen.

Wie sieht es mit anderen Ausrastern aus: dem Wutanfall, knallenden Türen, Zimmerarrest, Schweige-Strafe …

Ich glaube, vielen Menschen ist nicht klar, dass auch das Formen von Gewalt sind – die übrigens ähnlich schlimme Folgen haben können wie Körperstrafen. Damit meine ich nicht das einmalige Anschreien oder Türenknallen. Aber ein Kind, das dauerhaft herabgewürdigt wird, für das Unglück der ganzen Familie verantwortlich gemacht wird, keine Liebe und Zuwendung bekommt, zeigt ähnliche Auffälligkeiten in seiner Entwicklung wie ein Kind, das sexuell missbraucht wurde. Wenn ein Kind das Gefühl hat, es stört nur und hat keinerlei Wert, nimmt ihm das jede Würde. Die psychische Gewalt ist bei uns übrigens die häufigste Form der Misshandlung, knapp 20 Prozent der Kinder erleben hierzulande in irgendeiner Form Erniedrigungen, Vernachlässigung oder Missachtung. Die Folgen werden bis heute weitgehend unterschätzt. Unsere Gesellschaft muss anerkennen, dass Gewalt viele Gesichter hat und Kindern immer schadet.

Das ist das eine Ende der Diskussion. Das andere ist vielleicht, dass es Eltern gibt, die völlig verunsichert sind: Was darf ich in der Erziehung überhaupt noch? Sind Strafen und Sanktionen völlig tabu? Wie setze ich meinem Kind dann noch Grenzen?

Es ist mir sympathisch, wenn Eltern sich in diese Richtung mit dem Thema beschäftigen. Das ist doch besser als zu glauben, als Erziehungsberechtigte dürften sie alles. Ich bin absolut der Meinung, dass Kinder feste Regeln und Grenzen brauchen, und ihr Fehlverhalten manchmal auch angemessene Konsequenzen. Aber Strafen oder auch Belohnungen führen dabei in der Regel nicht zu einem entspannteren und vertrauensvollen Familienleben, das muss einem klar sein. Viel wichtiger ist es, mit den Kindern im Gespräch zu sein, eine gute Beziehung zu ihnen zu haben; ehrlich zu sein und auch über die eigene Hilflosigkeit zu sprechen. Wenn es den Eltern gelingt, ihren Kindern zuzuhören und ihre Gefühle ernst zu nehmen, entsteht Bindung und Vertrauen – die Grundlage für jede gute Konfliktlösung.

Bindung und Vertrauen – das klingt ein bisschen nach dem Feinfühligkeitskonzept, das für Babys und ihre Entwicklung so wichtig ist …

Das ist absolut richtig! Bei Babys geht es darum, möglichst prompt ihre Wünsche und Gefühle zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren. Aber Feinfühligkeit spielt nicht nur in den ersten Lebensjahren eine wichtige Rolle, sie bleibt ein Leben lang Thema. Wie wir die Beziehung zu unseren Kindern gestalten, wird ihr ganzes Leben beeinflussen. Nach den erlebten Mustern suchen sie sich später ihre Freunde und Partner aus. Wer sich für seine Kinder ein friedfertiges und von Respekt geprägtes Leben wünscht, muss dies in aller Konsequenz mit ihnen leben.

Was denkt ihr?

1. Ein Klaps auf den Hintern hat noch keinem Kind geschadet: Dieser Aussage stimmten in der oben genannten Studie …

A: … 80 Prozent der Befragten zu.

B: … 52 Prozent.

C: … 23 Prozent.

2. Aber die Prügelstrafe ist in Deutschland doch verboten, oder?

A: Ja, schon lange! Im Zuge der 1968er-Studentenbewegung wurde die Prügelstrafe abgeschafft.

B: Ja, zur Jahrtausendwende wurde das Gesetz zur gewaltfreien Erziehung erlassen.

C: Nein, es ist Eltern noch immer erlaubt, ihre Kinder zu schlagen.

3. Erwachsene, die selbst Gewalt in der Kindheit erlebt haben, …

A: … halten sie auch in der Erziehung der eigenen Kinder eher für akzeptabel.

B: … lehnen sie umso deutlicher ab, weil sie die schlimmen Erlebnisse den eigenen Kindern ersparen wollen.

4. Es ist in Ordnung, ein Kind zur Strafe mal zu ohrfeigen: Von den Befragten für angemessen hielt das …

A: … jeder Sechste.

B: … jeder Dritte.

C: … jeder Zehnte.

5. Die Zustimmung zu Körperstrafen bei Kindern ist größer…

A: … bei Männern.

B: … bei Frauen.

C: … bei jüngeren Menschen.

D: … bei älteren Menschen.

Die Zahlen hinter Klaps und Co.

1. Richtig ist: B.

52 Prozent der befragten Erwachsenen in der Ulmer Studie finden einen Schlag auf den Po in Ordnung. Bei einer ähnlichen Befragung von 2005 waren es sogar noch 76 Prozent.

2. Richtig ist: B.

Kaum zu glauben, dass das Recht auf gewaltfreie Erziehung erst im Jahr 2000 ins Bürgerliche Gesetzbuch kam. Bis dahin war Prügelstrafe geduldet, körperliche Gewalt an Kindern wurde nicht geahndet.

3. Richtig ist: A.

Erwachsene, die als Kinder selbst körperlich bestraft wurden, stimmen einer Ohrfeige mit 33,5 Prozent etwa zehnmal häufiger zu als Erwachsene, die in der Kindheit keine Körperstrafen erlebt haben (nur 3,5 Prozent Zustimmung).

4. Richtig ist: A.

Tatsächlich findet gut jeder sechste, nämlich 17,6 Prozent der Befragten, eine leichte Ohrfeige in Ordnung. Immerhin: Die Akzeptanz von Körperstrafen nimmt mit der Härte der Strafe ab: Schläge mit dem Stock wurden von fast allen Befragten abgelehnt: Nur 0,6 Prozent halten diese Strafe für okay.

5. Richtig sind: A und D.

So finden zum Beispiel 57,8 Prozent der Männer einen Klaps auf den Hintern in Ordnung, aber nur 47,1 Prozent der Frauen. Auch das Alter spielt eine Rolle: 55,4 Prozent der Befragten unter 31 Jahren lehnen derartige Bestrafungen ab, aber nur 34,7 Prozent der über 60-Jährigen.

"Aktuelle Einstellungen zu Körperstrafen und elterlichem Erziehungsverhalten in Deutschland" – so heißt eine große Studie, die 2020 von der Ulmer Uniklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie im Auftrag von UNICEF Deutschland und dem Deutschen Kinderschutzbund erhoben wurde. Die überraschendsten Ergebnisse? Stecken in unserem kleinen Test.

# NiemalsGewalt

Manchmal fängt Gewalt schon mit einem blöden Spruch an, diesem zum Beispiel: "Kinder mit ’nem Willen …" Das Kinderhilfswerk Unicef hat im Rahmen der Kampagne #NiemalsGewalt solche Sprüche gesammelt und umgedichtet: "… kriegen ’nen Daumen hoch." Downloads für die Kühlschranktür: unicef.de.

Auf 180

Unsere Autorin Jane Andersen fragt sich: Ist eine Mutter mit Wutanfall einfach nur authentisch oder schon ein Fall für den Kinderschutzbund? Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen.

Ich bin die Königin der Wenn-dann-Sätze. An Weltuntergangstagen (und die kommen in Corona-Zeiten nun mal vor), wenn alles zu viel zu werden scheint, sind sie meine Rettung. Sie funktionieren schnell und ohne große Diskussionen. Manchmal brauche ich das, einfach, um irgendwie durchzukommen durch den Tag. Meine drei Kinder sind großartige Jungs zwischen sieben und zehn. Sie sind fröhlich, sie sind laut, und sie sind eine Wand, wenn sie in Verhandlung mit ihren Eltern stehen. Zocken oder Zimmer aufräumen? Um acht oder um neun Uhr ins Bett gehen? Hausaufgaben machen oder ins Schwimmbad? Wenn es um ihre Rechte geht, sind sie sich immer einig, kein Blatt passt zwischen sie. Oft steht es bei Abstimmungen drei (Jungs) zu eins (Mama). Eigentlich mag ich das, Eltern müssen nicht immer die Übermacht haben.

Aber wie gesagt, es gibt Tage, an denen habe ich keine Kraft für Diskussionen. Meistens sind es solche, an denen ich morgens schon ein Gefühl der Überforderung verspüre. Zu viele Termine im Job, zu viel Chaos im Haus und keiner, der mitzieht. Dann hole ich die Wenn-dann-Keule raus.

Wenn du nicht auf der Stelle Zähne putzt, dann …

Wenn du nicht aufhörst, deinem kleinen Bruder mit der Gießkanne auf den Kopf zu hauen, dann …

Wenn ich den erwische, der das Kaugummi unter den Esstisch geklebt hat, dann …

Je nachdem, wo genau ich mich auf meiner persönlichen Wut-Skala befinde, fällt der zweite Satzteil entsprechend streng aus:

… gibt es morgen keine Süßigkeiten für dich!

… streiche ich das Taschengeld!

… setzt es was!

Genau, auch Letzteres habe ich schon gesagt. Und um noch eins obendrauf zu setzen: Ich habe es mit erhobener Hand gesagt. Eine Geste der Drohung, aus der zum Glück nie mehr geworden ist. Ich habe meine Kinder nie geohrfeigt, ich habe ihnen auch noch nie den Hintern versohlt. Aber ich war schon oft kurz davor. Dann habe ich mir schnell ein Kissen geschnappt und hineingeboxt oder habe gegen den Türrahmen gehauen, sodass mir eine Stunde später immer noch die Hand wehtat. Ich renne auch mal eine Runde um den Block oder rufe eine gute Freundin an, um Dampf abzulassen.

Gut, immerhin keine körperliche Gewalt. Aber immer wieder werde ich zu laut, fasse meine Kinder zu hart an, verhänge Zimmerarrest. Ja, manchmal mache ich ihnen mit meiner Wut auch Angst. Wenn ich die Türen knalle, im Weg liegende Schuhe zu heftig durch den Flur kicke, mich schimpfend zehn Minuten im Bad einschließe, dann sehe ich es meinen Kindern an: Unsicherheit, Sorge, Angst.

Aber ist das schon Gewalt? Streng genommen schon, sagt das Kinderhilfswerk Unicef. In einer Stellungnahme heißt es, dass Gewalt schon dort beginnen kann, wo kindliche Grundbedürfnisse wie Respekt, Sicherheit und emotionale Unterstützung nicht erfüllt werden. Wer seinem Kind ein Gefühl von Ohnmacht, Wertlosigkeit, Angst oder Abhängigkeit vermittelt, übt psychische Gewalt aus.

Puh, das muss ich erst mal schlucken. Und ernst nehmen. Einerseits. Andererseits hilft es aber auch niemandem, wenn ich in Selbstgeißelung verfalle.

Nein, es läuft sicher nicht alles perfekt in unserer Familie, aber vieles läuft gut. Momente, in denen wir fröhlich sind, miteinander lachen, reden und zusammenhalten, sind definitiv in der Überzahl. Es gibt Streit, ja. Aber vielleicht gehört der auch dazu, wenn man authentisch sein will. Ich habe zu dieser Frage eine sehr alltagstaugliche Regel gefunden, die gut in unser Familienleben passt. Sie kommt von dem amerikanischen Paartherapeuten John Gottmann, der sagt: Zwischen zwei Menschen darf es natürlich krachen. Unterm Strich sollte es aber in etwa 5:1 stehen – auf einen blöden Streit sollten fünf gute Erlebnisse kommen, damit man sich nah bleibt. Meine innere Strichliste sieht in diesem Zusammenhang ganz gut aus.

Zu den guten Erlebnissen zähle ich übrigens auch die Momente der Entschuldigung

Wenn ich mal ausflippe, mache ich nicht meine Kinder dafür verantwortlich, sondern suche den Fehler bei mir. Ein Sonnengruß zu wenig am Morgen? Mal wieder keiner außer mir, der die Kinder vom Sport abholen kann? Termindruck auf der Arbeit? Ich weiß inzwischen, welche Trigger es sind, die mich explodieren lassen. Ganz klar: Es ist nicht gut, wenn das passiert. Aber wenn, dann ist es an mir, es wiedergutzumachen: Dann schleiche ich mich zum Beispiel zeitnah an die Hängematte, in die sich mein ältester Sohn bei Streit gerne zurückzieht, ein Donald-Duck-Comic ganz dicht vor der Nase. Er tut beleidigt, aber ich weiß, es ist mehr als das, er fühlt sich verletzt. Ich sage: "Es tut mir leid, großer Bär. Es war nicht richtig, dass ich dich angebrüllt habe. Ich möchte mich wieder vertragen!" Dann tropft ein Tränchen der Erleichterung auf Dagoberts Geldspeicher, und ich weiß: Es ist gut, über diese blöden Gefühle zu sprechen. Auch wenn’s im ersten Moment noch ein bisschen mehr wehtut.

Harte Fakten

Die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzt, dass weltweit jedes Jahr eine Milliarde Kinder und Jugendliche zwischen zwei und 17 Jahren von physischer, sexualisierter oder psychischer Gewalt betroffen sind.

ELTERN

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