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Frühchen 29. ssw Cora, 960 Gramm, geboren in der 29. Woche

Frühchen 29. ssw: Cora, 960 Gramm, geboren in der 29. Woche
© Barbara Czermak / ELTERN
Das war vor 13 Jahren. Hier erzählt Coras Mutter, ELTERN-Autorin Barbara Czermak, ihre Geschichte. Und sagt, was sich seitdem für Frühchen und ihre Eltern geändert hat - und wie viel sich noch ändern muss.

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"Die streichholzdünnen Ärmchen ausgebreitet"

Ungeschützt, die streichholzdünnen Ärmchen ausgebreitet, liegt das winzige Wesen im gläsernen Inkubator, dem grellen Licht der Intensivstation, dem Alarmschrillen der Überwachungsmonitore ausgesetzt. Es hat Infusionsnadeln in den Armen, im Kopf. Schreien kann das Geschöpf nicht; der Schlauch der Beatmungsmaschine lähmt seine Stimmbänder. Feine dunkle Haare bedecken den kleinen Körper. Die Haut ist durchsichtig, Adern und Venen sind darunter zu erkennen.
Die Ohren sind noch so weich, dass sie sich nach innen rollen. Bei jedem schweren Atemzug zeichnen sich scharf die Rippen des kleinen Brustkorbes ab. Das Gesicht wirkt ausgemergelt, wie bei einem Greis. So sieht kein Baby aus. Dieses Wesen war nie für das menschliche Auge bestimmt; schon gar nicht für das seiner Mutter. 960 Gramm ist es leicht, in der 29. Woche der normalerweise 40 Wochen dauernden Schwangerschaft aus dem Mutterleib gerissen. Meine Tochter Cora.

Sanfter Umgang ist heute Standard

Das war vor gut 13 Jahren. Der erschütternde Anblick eines zu früh geborenen Babys ist der gleiche geblieben, damals wie heute. Aber die Überlebenschancen und die zu erwartende Lebensqualität von Frühchen sind um vieles besser geworden. "Nicht neuartiges Equipment bringt diese Erfolge", erklärt Professorin Orsolya Genzel-Boroviczeny, Leiterin der Neonatologie (Neugeborenenmedizin) im Klinikum der Universität München-Innenstadt, "sondern die größere Erfahrung, die wir haben: Unsere Einstellung hat sich geändert."
Im Gegensatz zu früher achtet man gewissenhaft auf Nebenwirkungen der Intensiv-Medizin, längst hat sich ein "sanfterer" Umgang mit den Winzlingen durchgesetzt: Die "Känguruh- Methode" (Eltern werden ermutigt, sich das Baby auf die Haut zu legen) gehört fast in allen Kliniken zum Standard. Im Inkubator lagert man die Frühgeborenen ebenfalls so kuschelig wie möglich.
Noch nicht in allen circa 200 Frühgeborenen-Stationen Deutschlands eingesetzt, aber durchgängig angestrebt: gedämpftes, punktuelles Licht, Deckenstrahler, geräuscharme Geräte. "Wir gehen davon aus", hofft Silke Mader, engagierte Vorstandsvorsitzende des Bundesverbandes "Das frühgeborene Kind" und selbst Frühchenmutter, "dass in fünf Jahren 80 Prozent der Kliniken 'Rooming in' für Frühchen und ihre Eltern bieten." Wie bei gesunden Neugeborenen. Noch ist, zumindest teilweise, Alltag, was ich vor 13 Jahren alles durchgemacht habe.

"Eigentlich brauchen Frühchen nur ein Minimum an Intensivmedizin"

Neun, zehn Stunden täglich sitze ich auf einem Plastikstuhl neben dem Brutkasten meiner Tochter, beengt durch die Reihen von Inkubatoren um mich herum. Fremde Eltern und Besucher schauen mir zu, als ich zum ersten Mal überhaupt mit Herzklopfen mein Kind hochnehme und auf mich lege, Schläuche und Kanülen inklusive. Allein sind Cora und ich nie.
Ich bettele darum, ihr wenigstens zehn Minuten vor den festgesetzten Fütter-Terminen per Sonde Nahrung in den Magen pumpen zu dürfen, wenn sie vor Hunger weint. Fast scheint es, als ob die Apparate-Medizin das Wichtigste sei. "Dabei brauchen Frühgeborene nur ein Minimum an Intensivmedizin", erzählt mir damals die ruhige, herzliche Wiener Kinderärztin Marina Marcovich, mit der ich als Journalistin ein Interview führe. "Sie brauchen vor allem viel Ruhe und Liebe, um sich ans Leben anpassen zu können."

Schwerer Start mit vielen Unwägbarkeiten

Als Frühgeborenes gilt jedes Kind, das vor der 37. Schwangerschaftswoche zur Welt kommt. Je früher, desto kritischer ist in der Regel sein Zustand. Doch Chancen hat jeder Winzling. Noch unter den Kindern, die zwischen der 24. und 28. Woche geboren werden, sind 80 Prozent gesund oder tragen lediglich eine leichte Behinderung davon, 20 Prozent bleiben schwer behindert.
Das derzeit "jüngste" Frühchen weltweit ist die kleine US-Amerikanerin Amillia. Sie kam mit 21 Wochen und einem Gewicht von 280 Gramm auf die Welt. Mögliche Folgen der extremen Frühgeburt, die bei ihr, wie bei allen anderen auftreten können: Lähmungen, Lungenrisse, Netzhautablösungen oder Erblindung. Nicht selten ist bei Frühchen die Intelligenz beeinträchtigt, sie haben Wahrnehmungs- oder Verhaltensprobleme.

Ein Drama für alle, die es trifft. Und leider trifft es immer mehr. Denn es werden immer mehr Frühchen geboren. Jährlich kommen bei uns mittlerweile über 60.000 Kinder vorzeitig auf die Welt; das sind etwa neun Prozent aller Neugeborenen, Tendenz weiter steigend. Auch die Zahl der "Hochrisiko-Kinder" unter 1.500 Gramm steigt rasant an - seit 1990 um über 20 Prozent auf 8.047 im Jahr 2006. Die Gründe für den Zuwachs liegen ausgerechnet im medizinischen Fortschritt.
So kommen mehr Zwillingsschwangerschaften durch künstliche Befruchtung zustande, das Alter der Schwangeren wird höher. Zudem gibt es wirksamere Maßnahmen bei drohenden Fehlgeburten, sodass sie heute häufig in Frühgeburten enden. Hinzu kommen die seit jeher bekannten Ursachen für zu frühe Geburten: Schwangere erkranken an Infektionen, der Gebärmuttermund ist zu schwach, werdende Mütter geraten seelisch unter Druck, leiden an Zuckerkrankheit, Anämie oder an einer Gestose (Schwangerschaftsvergiftung). Auch der schwersten Gestose-Ausprägung, dem HELLP-Syndrom, stehen die Mediziner noch heute so machtlos gegenüber wie damals bei mir.

"Wird mein Baby leben?"

Mein Blutdruck ist bei 220, Leber und Nieren drohen zu versagen, die Ärzte fürchten Krampfanfälle. Eine Woche liege ich so, angeschlossen an Überwachungsmonitore, im Krankenhaus, rechts und links von mir höre ich Babys quäken, Sektkorken knallen, Entbindungen von gesunden Kindern. Grausam. "Ich halte schon durch", schluchze ich, "aber ich will nicht sterben."
Im Operationssaal herrscht drangvolle Enge. Wird mein Baby leben? Wie ein Faustschlag rast die Narkose auf mich zu, mitten ins Gesicht. So werde ich Mutter.

Im Verhältnis von Eltern und Pflegepersonal steckt Zündstoff

"Das Geschehen ist ein Schock für Eltern", weiß die Sozialpädagogin Petra Hochecker. In der Münchner Abteilung von Professor Genzel-Boroviczeny betreut die freundliche 32-Jährige Mütter und Väter in der Ausnahmesituation. Es gibt nur wenige solcher Stellen. Dabei liegt es in der Natur der Sache, dass die Eltern unvorbereitet sind, überrumpelt, uninformiert und hilflos. Petra Hochecker organisiert Haushaltshilfen, erklärt gesetzliche Regelungen, unterstützt im Papierkrieg. Sie hört zu, tröstet, baut auf.

Das ist das Wichtigste. Denn leider machen sich die meisten Frühchen-Mütter schwere Vorwürfe, ihr Baby nicht neun Monate geschützt zu haben. Hochecker: "Schuldgefühle spielen eine enorme Rolle". Zündstoff stecke aber auch im Verhältnis von Eltern und Pflegepersonal: gestresste Schwestern, eilige Ärzte, dazwischen verzweifelte, ungeduldige Mütter und Väter, und das Monate am Stück. "Ich vermittle und werbe auf allen Seiten für Verständnis."

So oder so spielen Eltern inzwischen eine wichtige Rolle in der Behandlung von Frühchen, wie etwa Professor Gerhard Jorch, Direktor der Universitätsklinik Magdeburg, erläutert: "Das Beste, was man für die Kinder tun kann, ist, die Eltern schlau zu machen; sie auf Augenhöhe mit uns Ärzten zu bringen. Es macht keinen Sinn, zig Tausende von Euro für Intensiv- Medizin auszugeben, und dann stirbt das Kind, weil die Eltern nicht genügend eingewiesen waren."

"Ein Frühchen!", rufen fröhliche Gratulanten ins Telefon"

Ich bin noch krank, in der Klinik ohne Zugang zu Informationen und der schnellen Schnoddrigkeit mancher Ärzte ausgesetzt. "Eltern wollen stets, dass wir ihnen sagen, ob ihr Kind Abitur machen wird. Rechnen Sie mal lieber nicht mit diesem Abschluss", wirft mir ein Arzt hin, als ich mich ängstlich nach den Folgen von Coras Hirnblutung erkundige. Ausgeliefert bin ich der Unwissenheit meines privaten Umfeldes. Verwandte aus dem engsten Familienkreis raten mir, Cora doch lieber gleich in ein Heim zu geben.
Ein Frühchen!", rufen fröhliche Gratulanten ins Telefon, "wie nett - die holen ganz schnell auf!" Auch sie: ahnungslos. Bei vielen Frühgeborenen ist die Entwicklung nur verzögert, bei manchen bleibt sie plötzlich stehen. Kein Experte kann sagen, welches Kind es trifft oder wann. Und auch die Todesrate ist gegenüber reif geborenen Babys stark erhöht.

Lebensrettend: Die richtige Klinik

Der mögliche Tod der Kleinen wird derzeit allerdings unter anderen Vorzeichen diskutiert. "Jedes fünfte Frühchen, das bei der Geburt starb, könnte noch leben, wenn es im richtigen Haus zur Welt gekommen wäre", ist der Berliner Neonatologe Michael Obladen überzeugt. "Es gibt Kliniken in Deutschland, die gerade mal fünf Kinder unter 1.500 Gramm pro Jahr haben. Da wird jedes Mal improvisiert." Lebensgefährlich für die Babys, das ist längst bewiesen.

Die Forderung zahlreicher Mediziner: Nur Perinatalzentren mit höchster Qualitätsstufe sollte es erlaubt sein, Frühgeborene zu versorgen. Warum unerfahrene Kliniken aber so scharf auf diese Klientel sind, ist leicht erklärt: Ein Frühchen bringt bis zu 90.000 Euro ein. Je kleiner es ist, desto mehr. Experten raten Müttern bei drohender Frühgeburt deshalb, sofort eine Verlegung ins nächstgrößere Zentrum zu fordern.

"Jedes Geräusch lässt sie zusammenfahren"

Noch in der Nacht bringt mich mein Lebensgefährte aus der Privatklinik ins Universitätsklinikum. Als wir zum ersten Mal gemeinsam an Coras Brutkasten sitzen, ich an ihn gelehnt, das Füßchen unseres Babys durch eine Öffnungsklappe streichelnd, bin ich überzeugt: Uns drei bringt in diesem Leben nichts auseinander.
Drei Monate später kommt Cora nach Hause. Sie schreit panisch, außer sich, verzweifelt, Tage und Nächte hindurch, genau wie in der Klinik. Jedes Geräusch lässt sie zusammenfahren, drei Jahre lang höre ich nicht Radio. Cora schläft nie länger als zwanzig Minuten am Stück, bevor sie kreischend erwacht. Hinzu kommt die Unterernährung. Sie hat eine Trinkstörung, Gedeihstörung, leidet an Panikattacken, ist ständig krank. Wir verbringen unzählige Nächte in Notaufnahmen, viele Wochen in Kliniken. Eine Lungenentzündung folgt der nächsten. Als Cora vier Jahre alt ist, sind wir kein Paar mehr.

Frühchen - auch für die Partnerschaft eine Herausforderung

Ehen von Frühcheneltern, so die Statistik, halten der Verantwortung, Anspannung und Unsicherheit oft nicht stand; in den ersten sechs Jahren nach der Geburt ist die Trennungsrate hoch. "Die Mütter sind oft traumatisiert", weiß die Münchner Diplom-Psychologin Sigrid Stiemert-Strecker, selbst Frühchenmutter. "Alles dreht sich um das Kind. Es gibt immer wieder Väter, die dem nicht standhalten und sich vernachlässigt fühlen."

Einfache Kinder sind Frühchen in der Regel auch Jahre nach der Geburt oft nicht. Wegen körperlicher Probleme oder seelischer Notstände, die ihre Eltern Nerven kosten. Nachgewiesen ist, dass Frühgeborene häufig zu Träumern werden, die in der Schule Probleme haben. Stiemert-Strecker: "Ich kenne aber auch 14-jährige Frühchen, die bei Gewittern panisch werden; 12-Jährige, die nicht allein bleiben können; oder andere, die grundsätzlich jeden Schmerz mit sich alleine ausmachen." Für Eltern ist das schwer, vor allem, so die Psychologin, "weil in der Regel so viel Herzblut in diesen Kindern steckt, so viel Sorge".

"Bitte, bitte, werde groß!"

Ein Traum aus der Zeit damals: Ich pumpe Muttermilch ab, so wie ich es fünf Monate lang tue. Doch statt der Milch fließt im Rhythmus der Pumpe Blut in die Flasche ... Natürlich wollte ich Cora mein Innerstes geben, das Wertvollste. Zwei Jahre lang weiß ich nicht, ob sie nicht doch eine Behinderung zurückbehalten wird, meine Tochter entwickelt sich langsam. "Werde groß", flüstere ich ihr zu. Das ist das Wichtigste, bloß nicht mehr so winzig sein. "Bitte, bitte, werde groß!"

"Fast auf Augenhöhe"

Cora und ich strahlen uns an. Fast auf Augenhöhe. Sie ist 13 Jahre alt. Gesund. Hübsch. Klug. Siebente Klasse Gymnasium. Vielleicht ein bisschen zu ernsthaft. Aber wir beide haben viel geschafft. Glück und Kraft allen, die diesen Weg noch vor sich haben.

Umfassende Information, Unterstützung und Austausch finden betroffene Eltern beim Bundersverband Das frühgeborene Kind.

ELTERN

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