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Und nun? Vererbtes ADHS

Vererbtes ADHS: eine Mutter umarmt von hinten ihren kleinen Sohn. Beide tragen dicke Jacken
© LightField Studios / Shutterstock
Dass ADHS eine neurologische Erkrankung ist, die ihr Sohn Jasper offenbar von ihr geerbt hat, wird unserer Autorin erst bei der Diagnose des Jugendpsychiaters klar. Da ist der Sohn schon ein Teenager. Der Weg bis dahin ist holprig und voller verräterischer Sätze, die vielen ADHS-Eltern bekannt vorkommen dürften.
Eine Chronik der Ereignisse.

"Was für ein Zappelphilipp!"

(Oma bei der Einschulungsfeier)

Im Jahr, als Jasper zur Schule kommt, bricht unsere Familie auseinander. In den Sommerferien fahre ich mit den Kindern ans Meer. Ohne den Vater. "Warum kommt Papa nicht mit?", fragt Jasper und reißt seine blauen Augen auf. Sechsjährige verstehen es nicht, wenn die Eltern sich trennen. Kurz darauf ist Einschulungsfeier. Jasper platziert sich zwischen seinen Kita-Kumpels, mit denen er in die Schule kommt. Er schwatzt und hampelt während der feierlichen Ansprachen zwischen den anderen auf der Kirchenbank. Weiter hinten stehen Großeltern, Paten und wir Eltern, frisch getrennt und hoch zerstritten.

"Was für ein Zappelphilipp!", sagt Jaspers Oma. "Struwwelpeter-Vokabular", denke ich, "typisch Oma." An ADHS denke ich nicht!

"Wenn du den roten Bagger siehst, sperrst du die Ohren auf."

(Lehrerin im Lernentwicklungsgespräch, 1. Klasse)

Wir vier, Jasper, sein Vater, die Lehrerin und ich: im Lernentwicklungsgespräch. Stimmung: unterhalb des Gefrierpunkts. Jasper: wirkt gehemmt. Liegt es an uns, unserer konfliktbeladenen Trennung? Jaspers Handschrift lasse zu wünschen übrig, seine mündliche Beteiligung dito. Die Lehrerin fragt: "Jasper, woran liegt es, dass du dich nie meldest? Wir wissen, dass du sprechen kannst …"

Jasper: Schweigen. Achselzucken. Beine wippen. Hat er Angst? Vater: "Jasper, jetzt sag mal – woran liegt es, dass du dich nie meldest?" Lasst ihn doch in Ruhe, denke ich und sage: "Er ist verträumt. Das war ich auch früher. Er macht das schon – stimmt’s Jasper?" Jasper nickt.

Die Lehrerin nimmt einen feuerroten Radiergummi in Form eines Baggers aus seinem Federmäppchen: "Den stelle jetzt vor jeder Schulstunde hier vor dir auf. Immer wenn du den Bagger siehst, sperrst du sofort die Ohren wieder auf, ja?"

"Okay", sagt Jasper.

"Können Sie als Mutter ihn nicht besser unterstützen?“

(Kunstlehrerin beim Sommerfest, 3. Klasse)

Sätze von Lehrern, E-Mails, Elterngespräche werden wie Sprünge in der Platte: Alles wiederholt sich ständig. Jasper träumt, vergisst fast alles, meldet sich kaum. Außer bei Themen, die mit Gewässern und ihren Bewohnern zu tun haben. Er vergisst das Buntpapier für das Fensterbild, den Kleber sowieso – und auch sonst 80 Prozent aller Arbeitsmaterialien und Hausaufgaben. Ich erstelle "Mom-Chats", pflege Mütter-Freundschaften, kann jedoch nicht TÄGLICH Jaspers Hausaufgaben im Chat erfragen. Das ist sein Job.

Logo, rutschen auch mir Mails durch, während er Infozettel verliert, einige ziehe ich Monate später sedimentiert aus dem Ranzen. (Hilfe: wie meine Mutter bei mir früher!) Potenziere ich sein Chaos? Braucht mein Sohn eine Extra-Nanny, einen Privatlehrer, eine Schulbegleiterin – wie ein Kind mit Handicap?

Die Kunstlehrerin (meint sie das ernst oder hat Jaspers Vater sie gebrieft?) fragt beim Sommerfest: "Können Sie als Mutter ihn nicht besser unterstützen, seine Materialien zuverlässig mitzubringen?"

Echt jetzt? Leider muss ich auch Geld verdienen, habe ein zweites Kind, bin alleinerziehend und selbst ziemlich unstrukturiert. Bin ich jetzt schuld, dass Jasper immer mehr zum schulischen Under-Performer wird? Oder ist es Jaspers cholerischer Vater, dessen Stimme Glasscheiben sprengt, wenn er ihn beim Lernen "Flasche" und "Versager" nennt und seine Hefte durch den Raum feuert. Ich heule vor Wut, als Jasper mir das erzählt und denke: kein Wunder.

"Du musst strukturierter werden!"

(Ergotherapeutin, 4. Klasse)

Inzwischen verkörpert Jasper praktisch alle Protagonisten aus dem "Struwwelpeter": den Struwwelpeter selbst, den Zappelphilipp, den Hans guck in die Luft, auch den Suppenkasper. Er isst keinen Salat, kein Gemüse (außer Pommes).

Der Kinderarzt empfiehlt Ergotherapie (wegen der Handschrift). Physio (wegen der Motorik: Er hat oft aufgeschlagene Knie und beim Fußballtraining als einziger keinen Plan, wie ein Purzelbaum geht). Später macht er Judo (gut fürs Selbstbewusstsein), einen Segelkurs, rudert. "Du musst strukturierter werden", sagt die Ergotherapeutin.

Jaspers Vater besteht trotz mittelmäßiger Noten aufs Gymnasium. Ich gebe nach, obwohl ich eine Stadtteilschule mit Abi nach 13 statt nach 12 Jahren viel besser für ihn finde. Ab der 6. Klasse schlingert er mit lauter Vieren in die Pubertät. Er ist weder Anführer noch Außenseiter, eher der "charmante Chaot", der NIE Hausaufgaben macht. Vor dem Übergang in die Mittelstufe droht ein Schulwechsel. Wir wollen klären: Hat Jasper "nur" ein Konzentrations- oder ein IQ-Problem? Oder beides?

"Deiner ist viel schneller in der Birne als meiner"

(eine Freundin, Mitte 6. Klasse)

Aber sagt er nicht manchmal echt kluge Dinge für einen Zwölfjährigen? Nach "Zoomania" erklärt er einem Freund die Filmhandlung: "Es geht um Rassismus. Und um Machtkämpfe von Lebewesen aus verschieden Welten." Okay, denke ich. Als wir mit einer Mutter (und deren Sohn) für "Natur & Technik" lernen, trägt Jasper so präzise vor, dass sie sagt: "Deiner ist schneller in der Birne als meiner" (mit vergleichbaren Noten).

Problem: Sobald ein Vogel am Fenster vorbeifliegt, geht er geistig offline. Jaspers Vater macht Druck. "MEIN Sohn und DUMM?" Heul doch, denk ich. Ich bin sicher, er wird seinen Weg machen. Doch mir bricht das Herz bei der Frage, warum es nicht leichter für ihn sein kann.

"ADHS hat genetische Ursachen"

(Jugendpsychiater, Ende 6. Klasse)

Wir machen jetzt seit einem halben Jahr Sitzungen, Gespräche, Tests beim Jugendpsychiater. "Ihr Sohn hat eine Aufmerksamkeits-Störung mit Reizfilterschwäche. Er kann sich schlecht konzentrieren. Das inkludiert oft Begleiterkrankungen, mangelnde Impulskontrolle, Angststörungen, die abgeknabberten Nägel, seine Essstörungen." "Wie jetzt – er hat ADHS?", frage ich.

Es ist Hochsommer, vor dem engen, schwülen Raum an der Elbchaussee rasen Autos vorbei, als sich in Zeitlupe meine Leitung entknotet: DIESE STÖRUNG HAT ER VON MIR! Eine Störung, die ich bis dato nie als solche wahrgenommen hatte. Als Kind nannte man mich zwar (ungegendert) "Hans guck in die Luft" oder "zerstreuter Professor". Aber keiner sagte "Problemkind". "Vererbt?", frage ich. "Ja, ADHS hat auch genetische Ursachen." Worte wie Anpassungsbeeinträchtigung, unangemessen auftretende Müdigkeit, Orientierungslosigkeit, Dysregulation im Gehirn fallen. Man könne lernen, damit zu leben. Je konsequenter man therapiere, desto besser für Jasper, seine schulische Leistung, seine Lebensfähigkeit insgesamt.

"Ich empfehle eine Medikation"

(Noch mal der Jugendpsychiater, Ende 6. Klasse)

Ich kapiere: Es geht um Ritalin!

Der Doktor versucht, uns die Ängste zu nehmen, doch ich denke bei Ritalin an eine Droge, die künstliche Wachheit mit heftigen Nebenwirkungen erzeugt. Und muss sofort heulen. Alle gucken betroffen. Wieso heult die jetzt? Es gibt ein Problem und, bitte schön, hier ist die Lösung. Benzin für den Motor. Ist doch gut. "Nein. Mein Kind soll gedopt werden, damit es ins (Schul-)System passt?" Wenn hier etwas falsch ist, dann ja wohl das System und nicht das Kind!

Niemand hatte mir das als Kind je angetan. "Sie reagieren emotional", bemerkt der Psychiater sich räuspernd. Typisch ADHSler, lerne ich, später beim stundenlangen Googeln. Ich bin froh, dass Jaspers Vater meiner Meinung ist: Ehe wir Ritalin erlauben, probieren wir alles andere. Etwa "Neurofeedback", was Verhaltensmuster verändern soll und Hirnströme misst. Jaspers Vater begleitet ihn ein Jahr lang zu den Sitzungen. Es bringt nichts. Dann brechen wir ab.

"Wie kann eine wie du das Abi bestehen?"

(Fahrlehrer in den Neunzigern, nachdem ich dreimal durch die Prüfung gefallen war)

Fakt ist, ich kann bis heute keinen Koffer (ohne Liste) packen, sonst habe ich nur Oberteile, Bücher, Lippenstifte, aber keine Hose dabei. Ich habe selten einen Perso in der Tasche oder ein (gültiges) Ticket, komme immer zu spät oder gar nicht, springe, seit ich denken kann, auf fahrende Züge auf, verpasse Flüge und Fristen, obwohl ich mir das nicht leisten kann, und fluche, heule, stolpere über die eigene Verplantheit. Meine Fahrradkette springt ab, mir platzen Reifen – und der Kragen, wenn ich es eilig habe. Bis ich 30 und Mutter wurde, hatte ich fast täglich aufgeschlagene Knie. Als Volontärin parkte ich TÄGLICH im gleichen Halteverbot.

Mein Fahrlehrer konnte kaum glauben, dass eine wie ich das Abi bestehen, aber dreimal durch die (praktische) Fahrprüfung fallen kann. Sicher, ADHS hat humoristisches Potenzial. Ich lache, wenn ich das heute erzähle, doch es stresst, das eigene Defizit ständig ins Absurde zu (er-)heben, weil man lieber lustig als dumm wirken will. In meiner Schulzeit war ich eine Zumutung, vor allem für mich selbst: Den Prolog aus "Piccolomini" in fünffüßigen, ungereimten Jamben habe ich 300-mal gelesen und trotzdem nicht in den Kopf bekommen, was mich um ein Haar das Abitur gekostet hätte. Vieles in meinem Leben ist "um ein Haar".

"Einige Erfahrungen können wir ihm ersparen – vielleicht doch Ritalin?"

Jaspers Vater, nach der 10. Klasse und vor der Ehrenrunde

Heute weiß ich einiges über ADHS: Symptome treten in unterschiedlichsten Formen und Intensitäten auf, schulische Leistungen fallen trotz hoher oder Hochbegabung ab, Misserfolge werden mit aggressivem, antisozialem Verhalten kompensiert.

Nach der Zehnten hat Jasper fast nur noch Fünfen, an einen Schulabschluss ist nicht zu denken. Wir schicken ihn ein halbes Jahr ins Ausland, er wiederholt die Klasse. Und: Seit er aus Kanada zurück ist, wirkt er recht wach – irgendwie verändert. Er hat Nachhilfe in vier Fächern. Er will es unbedingt schaffen und alles probieren, sogar Ritalin. Er verträgt es gut und sagt: "Es hilft!" Zurzeit hat er keine Fünf mehr im Zeugnis, er wirkt wie ein ganz normaler Oberstufenschüler, der viel chillt und Fußball spielt. Und ein Satz fällt zurzeit deutlich seltener. Es ist der Satz, den wir ADHSler besser kennen als jeden anderen: "Jetzt reiß dich einfach mal zusammen, du bist doch nicht dumm!"

Ritalin ... wird mit seinem Hauptwirkstoff Methylphenidat häufig als Medikament bei ADHS eingesetzt. Denn man geht davon aus, dass die Symptome der Störung – etwa Hyperaktivität, kurze Aufmerksamkeitsspanne, Ablenkbarkeit, Impulsivität – vor allem durch ein Ungleichgewicht der Botenstoffe im Gehirn hervorgerufen werden. Methylphenidat hemmt die Wiederaufnahme der Neurotransmitter Dopamin und Noradrenalin und kann so zu einer Regulierung der Gehirnchemie beitragen.

Dass die Pillen in der Öffentlichkeit und bei Eltern trotzdem äußerst umstritten sind, hat verschiedene Gründe, zum Beispiel:

Sie können Nebenwirkungen haben: Dazu gehören vor allem Schlafstörungen, Übelkeit, Appetitlosigkeit.

2 Das Medikament wirkt leistungssteigernd. Das ist gut für ADHS-Kinder, weil die Noten oft besser werden. Allerdings wurde Ritalin in der Vergangenheit mitunter auch von Schülern und Studenten als "Speed fürs Gehirn" missbraucht.

3 Es besteht die Gefahr von Fehl- und Überdiagnosen. Zwar gibt es normierte Tests und Diagnosekriterien für AD(H)S, immer wieder werden jedoch auch Kinder mit den Tabletten behandelt, die eigentlich ein anderes Problem haben, was aber nicht erkannt wird – etwa eine Angststörung. Eine zweite Expertenmeinung kann dieses Risiko deutlich verringern.

ELTERN

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