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Spina Bifida Tagebuch: Unser Kampf um Rosalie (1)

In der 15. Schwangerschaftswoche erfahren Virginia und Steffen, dass ihr Baby an einem offenen Rücken leidet. Der Arzt spricht von Querschnittslähmung und Wasserkopf. Und rät zum Schwangerschaftsabbruch. Aber die beiden kämpfen für ihre Tochter. Teil 1: Die Diagnose. Und die Frage, ob eine riskante OP helfen kann.

16. September

Familie Reinke
© Virginia Reinke

Juhu, der Schwangerschaftstest ist positiv, wir bekommen ein zweites Kind! Vor vier Jahren, bei Amalia, habe ich mich viel zu sehr verrückt gemacht, ob mit dem Kind alles in Ordnung ist. Diesmal wollen wir alles entspannt angehen. Wir sind jung, und wir haben schon ein gesundes Kind. Also keine Pränataldiagnostik!
(Im Bild rechts sind Steffen und ich mit Amalia zu sehen, kurz vor der zweiten Schwangerschaft)

18. November

Im Oktober meinte die Hebamme, ob wir nicht doch zum Ultraschall wollen. Bei der Nackentransparenzmessung kann man nämlich das Kind so schön groß sehen und vielleicht auch das Geschlecht schon erkennen. Eigentlich keine schlechte Idee – wenn wir das Geschlecht wissen, können wir uns auch schon Kleidung fürs Zweite zu Weihnachten wünschen! Beim Vorsorgetermin heute hat uns der Frauenarzt dann auch über die Nackenfaltentransparenzmessung aufgeklärt und uns einen Überweisungsschein mitgegeben.

20. November

Heute sind wir zum Ultraschall ins Krankenhaus gefahren. „Auffällige Schädelgrube“ sagt der Arzt, mehr nicht. Ist das was Schlimmes? Er sagt nur, dass wir noch einmal wiederkommen sollen.

25. November

Wieder im Krankenhaus. Jetzt heißt es: „Verdacht Spina Bifida“. Wir fragen: „Was bedeutet das? Müssen wir das Kind gehen lassen?“ Der Arzt meint aber nur, wir sollten in einer Woche noch mal wiederkommen. Keine weitere Info, was die Diagnose bedeutet. Auf der Rückfahrt im Zug googeln wir die Diagnose erst mal und stellen fest, dass es sich um ein Loch im Rücken handelt, bei dem das Rückenmark freiliegt. Wir lesen von Querschnittlähmung und Wasserkopf und sind total geschockt von den schrecklichen Bildern. Das kann nicht sein, der Arzt muss sich irren!

3. Dezember

Zum dritten Mal Ultraschall, für eine Zweitmeinung: Der neue Arzt sieht auf dem Bildschirm nur den Kopf unseres Babys und sagt schon: „Ja, das ist Spina Bifida“. Jede Freude über die Schwangerschaft ist plötzlich weg, ich fühle nur Leere, bekomme rasende Kopfschmerzen und kann nur noch weinen. Der Arzt nimmt sich Zeit, die Möglichkeiten mit uns zu besprechen: Das Kind könnte schwer behindert sein, wir hätten die Möglichkeit, „auf den Reset-Kopf zu drücken und noch einmal von vorn beginnen“ – sprich, die Schwangerschaft jetzt beenden zu lassen, oder auch noch später.

4. Dezember

Damit wollen wir uns nicht abfinden: Abtreibung kann doch nicht die einzige Möglichkeit sein? Wir recherchieren online und werden in eine WhatsApp-Gruppe von Eltern mit Spina-Bifida-Kindern aufgenommen. Dort erfahren wir, dass es noch eine dritte Möglichkeit gibt: Unter bestimmten Umständen kann man den offenen Rücken noch in der Schwangerschaft operieren. Sollen wir das wagen? So habe ich meinen Mann noch nie erlebt. Er ist nur kurz geschockt und sagt dann: „Wir ziehen das durch.“

6. Dezember

Erstes, langes Telefonat mit Prof. Martin Meuli, dem Spezialisten für die Spina-Bifida-Operationen in Zürich. Er sagt, er könne unserem Kind wahrscheinlich helfen. Wir fühlen uns sofort viel zuversichtlicher. Allerdings müssen wir uns dafür erst qualifizieren, denn er operiert nicht in jedem Fall. Das Loch darf nicht zu weit unten am Rücken sein und es muss tatsächlich offen sein und nicht vielleicht von Haut bedeckt. Denn beides würde bedeuten, dass das Kind vielleicht gar keine schweren Behinderungen hätte – und dafür würde man das OP-Risiko für Mutter und Kind nicht eingehen. Und: Wir müssen eine Fruchtwasseruntersuchung machen lassen, um Chromosomenschäden wie Trisomie 13, 18 und 21 auszuschließen.

10. Dezember

Also noch einmal ins Krankenhaus. Diesmal bekomme ich schon Kopfschmerzen, als ich die Klinik nur betrete. Der Arzt ist alles andere als einfühlsam. Er lässt sich lange schweigend Zeit bei der Ultraschall-Voruntersuchung und sagt dann: „Sie haben eine Vorderwand-Plazenta. Da komme ich nicht dran vorbei. Ich muss durch die Plazenta stechen.“ Ich frage nach dem Fehlgeburtsrisiko, er antwortet: „Eine von hundert Frauen verliert ihr Kind. Ihre Schwangerschaft ist so fragil -  es kann gut sein, dass es bei Ihnen passiert“. Ich kann nur noch weinen – wir werden in einen Nebenraum geschickt, damit ich mich beruhigen kann. Wir müssen also einen Eingriff machen lassen, der unser Kind umbringen könnte, damit es die Chance auf eine OP hat, die ihm vielleicht ein Leben ohne Behinderung ermöglicht?
Wir entscheiden uns dafür, weil das Kind die besten Voraussetzungen für ein schönes Leben haben soll. Und wir suchen noch dort einen Namen aus, denn: Wenn etwas passiert, muss das Baby einen Namen haben. Rosalie soll unser zweites Mädchen heißen!

Hier könnt Ihr den zweiten Teil des Tagebuchs lesen: Kann Rosalie im offenen Mutterleib operiert werden?
 


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