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Sexuelle Reife Die Pubertät beginnt immer früher

Mädchen und Jungen kommen heute deutlich früher in die Pubertät als ihre Eltern oder Großeltern. Warum ist das so? Weil die Ernährung sich verändert hat, sagen Experten.

Pubertät - heute schon mit acht?

Sexuelle Reife: Die Pubertät beginnt immer früher
© Jupiterimages

Vor ungefähr 140 Jahren, also im Jahr 1860, trat bei den meisten Mädchen in Deutschland die Menarche (erste Regel) im Alter von 16,6 Jahren ein. 1920 lag das Durchschnittsalter schon bei 14,6 Jahren. 1980 bekamen die deutschen Mädchen ungefähr mit 12,5 Jahren ihre erste Periode.
Und heute beginnt die Pubertät schon häufig mit dem elften Lebensjahr. Der Landauer Sexualforscher Norbert Kluge schätzt, dass Mädchen in Deutschland, die im Jahr 2010 14 Jahre alt sind, bereits mit 9,7 Jahren ihre erste Regelblutung hatten. Seit etwa 25 Jahren beobachten Ärzte zudem, dass Mädchen bereits mit acht, vereinzelt sogar noch früher, Schamhaare und Brüste wachsen.
Diese kontinuierliche Beschleunigung der sexuellen Reife lässt sich aber auch bei Jungen beobachten. Deren sogenanntes Ejakularchealter, also der Zeitpunkt des ersten Samenergusses, hat sich im Laufe der Zeit ebenfalls immer weiter verfrüht. Vergleicht man etwa die Ergebnisse zweier Studien der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zur Jugendsexualität aus den Jahren 1980 und 2006, so zeigt sich: 1980 gaben 69 Prozent der 14-jährigen Jungen an, bereits einmal ejakuliert zu haben, 26 Jahre später sind es schon 83 Prozent. Der Anteil der Jungen, die vor dem zwölften Geburtstag ihren ersten Samenerguss haben, ist innerhalb dieses Zeitraums von sieben auf 16 Prozent gestiegen. Auch kommen Jungen heute bereits mit zwölf, 13 Jahren in den Stimmwechsel. Als Johann Sebastian Bach den Thomanerchor leitete, sangen noch 17- und 18-Jährige Sopran.

Wodurch wird die Pubertät ausgelöst?

Das Hormon GnRH (Gonadotropin Releasing Hormon) gibt den Anstoß für die Wandlungen im Körper. Es entsteht in größeren Mengen in einer bestimmten Hirnregion, dem Hypothalamus, und regt die benachbarte Hirnanhangdrüse (Hypophyse) an, zwei weitere Botenstoffe zu bilden: FSH (Follikel-stimulierendes Hormon) und LH (Luteinisierendes Hormon). Diese regen die Reifung der Samen in den Hoden und der Follikel in den Eierstöcken an, wo wiederum die eigentlichen Geschlechtshormone produziert werden: Testosteron und Östrogene.

Warum verlagert sich der Beginn der Pubertät immer weiter nach vorne?

In der Wissenschaft werden verschiedene Ursachen diskutiert. Zwei Thesen gelten mittlerweile als akzeptiert:

1. Die Ernährung hat sich verändert

Zusammenhang zwischen Übergewicht und früher Menarche

Die Versorgung mit Fleisch, Fett, Milchprodukten und Vitaminen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich verbessert. Die Jugend kann sich heute gesunder ernähren – gleichzeitig aber auch kalorienreicher und fetter. Auch in Deutschland steigt die Zahl der übergewichtigen Kinder. Die Wissenschaft vermutet, dass ein Zusammenhang zwischen reichhaltiger Ernährung und einem früheren Eintreten der Pubertät besteht. So zeigte sich in Studien, dass übergewichtige Mädchen oft früher ihre erste Regelblutung bekommen. Ein aktuelles Beispiel sind die Ergebnisse des Kinder- und Jugendgesundheitssurvey des Robert Koch Instituts (KiGGS), für den 18.000 Jugendliche in Deutschland befragt und untersucht wurden. Hier zeigte sich, dass stark übergewichtige Mädchen ihre erste Blutung im Alter von durchschnittlich 10,4 Jahren bekamen. Normal gewichtige Mädchen hingegen erst mit 10,8 Jahren.
Ergebnisse aus den USA, über eine immer früher einsetzende Brustentwicklung bei Mädchen, deuten in die gleiche Richtung. Vermutet wird, dass das Fettgewebe mit der Bildung des hormonähnlichen Eiweißes Leptin ein Signal für den Beginn der Reifeentwicklung gibt. Leptin steuert die Energiebalance und das Hungergefühl vermutlich mittels eines Feedback-Systems über den Hypothalamus. Beim Vorliegen eines bestimmten Anteils an Körperfett soll Leptin im Hypothalamus ein Signal für die Reproduktionsbereitschaft des Körpers geben. Was diese These unterstützt: Die Konzentrationen von Leptin verändern sich in systematischer Weise vor und während der Pubertät.

2. Einfluss der Umwelt

Auch soziale Belastungen spielen eine Rolle

Auch bei Veränderungen in der Umwelt wird vermutet, dass sie einen Einfluss auf die Verlagerung des Reifezeitpunktes haben. Dabei wird zwischen der sozialen Umwelt, also den Einflüssen der Gleichaltrigen, der Medien oder auch der zunehmenden Sexualisierung der Gesellschaft einerseits und andererseits ökologischen Veränderungen oder Umweltgiften unterschieden.
Schadstoffe und hormonhaltige Pflegeprodukte
Von den Schadstoffen Diethylhexylphthalat (DEHP) und Bisphenol A weiß man heute, dass sie bestimmte Organe wie Leber, Nieren und Hoden schädigen. Der Weichmacher DEHP, der vor allem bei der Herstellung von Kunststoffen verwendet wird, wurde 2005 vom europäischen Parlament als "fortpflanzungsgefährdend" eingestuft. Seit 2006 dürfen Spielwaren, in denen DEHP enthalten ist, nicht mehr verkauft werden. Bisphenol A ist in Kunststoffprodukten aus Polycarbonat enthalten. Er hat im Körper des Menschen die gleiche Wirkung wie das weibliche Geschlechtshormon Östrogen. Deswegen wird er auch als eine mögliche Ursache für eine verfrühte sexuelle Reife diskutiert. Auch östrogenhaltige Shampoos und Pflegemittel stehen im Verdacht, die Verlagerung der Pubertät zu beeinflussen. In Deutschland dürfen diese Produkte nicht mehr verkauft werden.
Soziale und psychische Einflüsse
Eheprobleme der Eltern, wechselnde Bezugspersonen, soziale Belastungen wie Armut und Arbeitslosigkeit der Eltern, aber auch ein autoritärer Erziehungsstil werden ebenfalls als zumindest indirekte Gründe für ein frühes Einsetzen der Pubertät diskutiert. Es wird angenommen, dass das Fehlen einer konstanten und sicheren Bindung die Neigung zu depressiven oder auffälligem Verhalten erhöht und damit auch die Neigung zur Kompensation der Probleme durch übermäßiges Essen.

Noch nicht in der Pubertät, aber in der späten Kindheit?

"Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich habe nichts zu tun." Das lässt sich ändern. Wie wär's mit Aufräumen? "Ich bin müde." Müde - wovon? Vom Nichtstun, vom Gelangweiltsein, vom Nicht-Wissen, was man mit sich anfangen soll. Würde nicht immer wieder die kindliche Unternehmungsfreude durchscheinen, könnte man denken, viele Achtjährige seien in der Pubertät.

Mit acht und neun? Gut möglich. Vor allem aber ist das Verhalten typisch für die erste Phase der Adoleszenz, für das Herauswachsen aus der Kindheit und das Hineinwachsen in ein Stadium zwischen Kind- und Jugendlichsein - und somit ganz normal.

Die späte Kindheit gilt als relativ unauffällig und unproblematisch, für die Eltern eine Atempause nach der anstrengenden Kleinkindzeit und vor den Turbulenzen der Pubertät. Tatsächlich sind die Jahre zwischen acht und zwölf aber von großen Umbrüchen begleitet. Die lassen sich auf einen einfachen Nenner bringen: Großen Kindern wird es zu eng. Deshalb fordern sie energisch mehr Freiheiten, mehr Verantwortung, mehr Selbstbestimmung. Wer versucht, sie weiter "wie Babys" zu behandeln, stößt auf Widerstand. Dieses Verhalten zeigt sich, und das ist wichtig zu wissen, unabhängig davon, ob die eigentliche Pubertät, also die Geschlechtsreife, bereits begonnen hat oder nicht. Kinder, die sich "pubertär" benehmen, sind also nicht unbedingt schon in der Pubertät. Obwohl auch das möglich ist.

Große Kinder brauchen schon vor der Pubertät mehr Freiheiten

Große Kinder brauchen ein souveränes und liebevolles Gegenüber

Eine frühe Geschlechtsreife macht allerdings noch lange keinen Teenager! In emotionaler, kognitiver, sozialer Hinsicht und nicht zuletzt im Hinblick auf sexuelle Aktivitäten sind die Acht- bis Zwölfjährigen Kinder. Die Frage ist: Wie geht man mit diesen großen Kindern um? Das Wichtigste: Großen Kindern darf man Großes zutrauen. Sie selbst trauen sich jetzt, anders als ein paar Jahre später, eine ganze Menge zu. Viele eignen sich erstaunliche Fertigkeiten und Sachkenntnisse an, wie der zehnjährige Ramiz bei seiner kleinen Fischzucht. Die späte Kindheit ist der beste Zeitpunkt, um neue Interessen zu wecken und alte zu vertiefen.

Hobbys sind keine kindlichen Spielereien mehr, sondern "wertige", ernsthafte Tätigkeiten. Große Kinder wünschen sich, dass man sie darin ernst nimmt, ohne zugleich erwachsene Maßstäbe anzulegen. Dabei lieben sie es, sich mit anderen, auch mit Erwachsenen, zu messen. Das zeigt sich unter anderem in einem ausgeprägten Renommiergehabe. Erwachsene, die hier ihre Überlegenheit ausspielen, haben schon verloren. Wenn große Kinder übers Ziel hinausschießen, brauchen sie ein ein souveränes und liebevolles Gegenüber.

Starke Worte und Gefühle sind ein typischer Ausdruck dieser Altersphase. Große Kinder müssen außer Rand und Band geraten und laut sein dürfen. Und sie sind sehr laut! Beim Schreien, Lachen, Toben, Streiten, Blödeln geht es darum, ein im Wortsinn "tolles" Gefühl zu erzeugen. Kinder brauchen jetzt viel Bewegungsfreiheit, Zeit für Spiel und Sport und Kontakt mit Gleichaltrigen. Dürfen sie ihre Gefühle nicht über Bewegung ausleben, tun sie sich sehr viel schwerer, emotionale Turbulenzen zu bearbeiten und zu überwinden.

Und was ist mit dem Sex?

Das intensive Gefühlsleben zeigt sich auch darin, dass sich große Kinder heftig verlieben können. Der zehnjährige Kasimir hat neulich zum Entsetzen seiner Mutter in einer SMS die achtjährige Tochter einer Freundin gefragt, ob sie mit ihm gehen will. Ein sexueller Kontakt ist jedoch noch nicht das Ziel der Sehnsüchte und sollte auch nicht aus Besorgnis herbeigeredet werden ("Braucht mein Kind etwa schon ein Kondom/die Pille?"). Die erste Liebe spielt sich weitgehend in Herz und Kopf ab. Die meisten Heranwachsenden bekommen mit 14 den ersten "richtigen Kuss", und das "erste Mal" findet nach wie vor zwischen 16 und 18 statt.

Und: Große Kinder, die sich wie Teenager anziehen oder benehmen, wollen noch nicht wie Jugendliche gesehen und behandelt werden. Das würde sie überfordern. Sie loten aus, wie weit sie gehen können, wie groß ihr Freiheitsradius jetzt ist - möglichst größer als früher!

Die meisten Kinder gehen damit erstaunlich verantwortungsvoll um. Denn anders als Jugendliche stellen sie die Berechtigung von Grenzen - noch - nicht infrage, sagt die Familientherapeutin Oggi Enderlein ("Große Kinder", dtv, 12,90 Euro). Für sie besteht nicht der geringste Zweifel, dass bestimmte Regeln gelten und dass das die nächsten Jahre auch so bleibt.


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