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Nachhaltigkeit im Kindergarten Wie funktioniert umweltfreundliche Kinderbetreuung?

Nachhaltigkeit im Kindergarten: Kindergärtnerin liest den Kindern ein Buch vor
© Lordn / Shutterstock
Weitermachen wie bisher? So essen, spielen, einkaufen gehen, als stünde es nicht schlecht um den Planeten? Können wir nicht mehr – da war man sich im katholischen Kindergarten St. Nikolaus in Erfurt einig. Wie aber sensibilisiert man Zwei- bis Sechsjährige für Nachhaltigkeit?

Für Georg, Pepe und Tom, die schon um sieben in den Kindergarten gekommen sind, ist der Gang in den Garten, zur "Kräuterschnecke", gleichermaßen Routine wie Erlebnis – obwohl oder vielleicht gerade, weil es regnet. Beherzt knöpft sich Georg die heute besonders frisch duftenden Minzsorten vor: Pfefferminze, Ananasminze, marokkanische Minze. "Für Minzwasser braucht man keinen Zucker", erklärt der Dreijährige, während er ein paar Stängel von den Pflanzen zupft. "Wie Limo ist das", bestätigt Pepe, der mit einer Schere an Thymian, Salbei, Estragon und am Frauenmantel hantiert. Für einen Gartenkräutertee, den es gleich zum Frühstück geben soll.

Nachhaltigkeit hat auch im Kindergarten einen Wandel bedeutet

Szenen wie diese sind für Kita-Leiterin Anja Köllner Alltag. Mittlerweile. Manchmal kann die 47-Jährige, die seit inzwischen 27 Jahren im Erfurter Kindergarten St. Nikolas arbeitet, noch immer nicht glauben, wie das Thema Nachhaltigkeit in den vergangenen Jahren an Fahrt aufgenommen hat. Was heute die Kräuterschnecke ist, war einst ein Rosenbeet. In Hochbeeten, wo früher Zierblumen wuchsen, gedeihen Kohlrabi, Salat und Erdbeeren. Früher gab es einen Hausmeister, der den Garten "akkurat" haben wollte. Jetzt bleiben im Herbst ganz bewusst ein paar Laubhaufen liegen. Denn: Igel sind nicht nur süß, sondern nützlich, ist doch klar!

Kinder brauchen Natur, das wissen alle. Und das 1400 Quadratmeter große und von drei Seiten eingewachsene Außengelände der Einrichtung schreit ja auch geradezu nach einer entsprechenden Einbindung. "Früher haben wir in der pädagogischen Arbeit eher einzelne Ausschnitte gesehen", sagt Köllner. Das haptische Erlebnis etwa, wenn die Hände in der Erde sind. "Jetzt geht es um mehr." Ganzheitlich. Ja, die Erzieherin weiß, das klingt abgedroschen. Aber genau das trifft es.

Denn wenn Pepe, Georg und Tom ihre Ernte jetzt in die Küche bringen, wirkt sich das in vielerlei Hinsicht direkt auf den Kindergarten-Alltag aus. Kistenweise Tee in Beuteln? Muss nicht mehr gekauft werden. Früher wurde die Ware beim Großhändler bestellt. Musste mit dem Postauto hergebracht werden. Nicht zu vergessen, der anfallende Müll über Verpackung und die Beutel selbst. Jetzt müssen die Kinder nach dem Frühstück nur eben ums Haus gehen, zum Kompost. Minzwasser spart Energie, so ist das.

Forschung dank Kinderfragen

Seit 2012 ist der Erfurter Kindergarten, der von 60 Kindern zwischen zwei Jahren und Schuleintritt besucht wird, "Haus der kleinen Forscher". Richtige Forschung braucht Experimente, braucht Naturwissenschaft – zunächst hat Anja Köllner so gedacht. Wie wirkt Magnetismus? Kann man Elektrizität hören? Sie waren viel in der Experimentierecke mit den Kindern. "Seit wir Nachhaltigkeit konzeptionell verankert haben", sagt die Kita-Leiterin, "forschen wir eigentlich mehr denn je." Angeschoben durch Kinderfragen, die auch bei den Großen viel in Bewegung setzen.

"Ist Holz besser als Plastik?" Für gut verarbeiteten und über Kinder-Generationen bespielten Kunststoff gilt das nicht – das mussten die Erzieher mussten erst mal für sich selbst klarkriegen. Inzwischen fühlt sich hier keiner mehr im Konflikt wegen Sandspielsachen aus Plastik. Sowieso ist "alt und authentisch" oft besser als "neu und öko". Für die Puppenküche haben die Eltern ausrangiertes Geschirr, Besteck und Töpfe mitgebracht. Für die Puppen wird seitdem nicht nur "nachhaltig" gekocht. Sondern auch: lebensbezogen. 

Spielfiguren aus Obstbaumverschnitt

Lebensbezug ist wieder so etwas, bei dem man in St. Nikolaus ganz schnell zur Natur und dann zur Nachhaltigkeit kommt. Klar, wo Kinder intensiv mit den Jahreszeiten gehen, entsteht so etwas eher: Weihnachtskrippen aus Walnüssen. Kleine Buden in der Sandkiste aus Rinde und Zapfen. Jonathan und Pepe sind gerade in der Bauecke in ein Rollenspiel vertieft. Mit Figuren aus Obstbaumverschnitt, die eine Kindergarten-Mama vorbeigebracht hat. "Die werden lange halten", das weiß Anja Köllner schon jetzt. Weil Nachhaltigkeit, Wertschätzung und Achtsamkeit eng miteinander zusammenhängen.

Mittlerweile ist Frühstückszeit. Rucksäcke auf, Brotdosen auf die Tische. Wo glänzt es, wo glitzert es? Noch vor drei Jahren war möglich aufgemotzt Verpacktes beim Frühstück der Hit. Inzwischen sind Kinder wie Hannah der Star. Vollkornbrot, das mithilfe von Ausstechern in Form gebracht wurde, präsentiert die Dreijährige: hier eine Mickymaus, da ein Stern. Und auch Nilas und Livia, die Mirabellen, Pflaumen und Blaubeeren dabeihaben, ernten interessierte Blicke.

Auslöser für das Ändern der Frühstücksgewohnheiten war ein 80-Liter-Sack voller Müll, den die vier Kindergartengruppen mit den insgesamt 60 Kindern im letzten Jahr im Rahmen eines dreiwöchigen Experiments gefüllt haben. So viel? Kurzerhand wurde dann ein Elterncafé organisiert.

Bienen lösen das Müll-Dilemma

"Wie das eben so ist …", sagt Köllner: Erst fanden alle die Idee eines müllfreien Frühstücks gut. Dann aber kamen doch wieder die eingeschweißten Hörnchen. Und die Riegel. Und die Quetschies. Und es kamen Eltern, die sich offensichtlich gemaßregelt fühlten: "Mein Kind mag so was nun mal."

Anja Köllner nennt das Einzugsgebiet des Kindergartens "gemischt". Erfurt-Melchendorf ist im Zentrum ein Stadtteil mit dörflichem Charakter, drumherum sind in den 80ern Plattenbauwohngebiete gewachsen, die als Brennpunkt gelten. War es lebensfremd, pauschal von allen Familien ein Bewusstsein für Fair Trade, regional oder bio zu erwarten? Als ambitioniertes Team, in dem das mittlerweile jeder auch privat ganz selbstverständlich lebt?

Wie sich das Müll-Dilemma gelöst hat, ist ein Paradebeispiel dafür, wie Bildung für nachhaltige Entwicklung gelingen kann, so sieht man das hier. Letztlich nämlich nicht über Aufklärungsarbeit wie Filme, die zeigen, wie Schildkröten und Fische in vermüllten Meeren sterben. Und wohl auch nicht über konsequente Mülltrennung oder mitgenommene Taschen zu jedem Einkauf. Sondern sehr praktisch: "Einer der Väter ist Imker." Bienenwachs gefällig?, fragte der. Gern, vielleicht fürs Kerzenziehen, das war der erste Impuls. Der zweite war ein anderer: Tücher in Form schneiden, sie schichtweise mit geschmolzenem Bienenwachs bestreichen, dann das Wachs einbügeln.

Spielerische Möglichkeiten sorgen dafür, dass auch Kinder nachhaltige Produkte lieben

Hübsch sieht der abwaschbare und wiederverwendbare Folienersatz aus, den viele Kinder jetzt in den Brotboxen haben. An einem Verkaufsstand konnten die Eltern die Tücher gegen eine Spende erwerben. "Möglichkeiten machen Lust, Verbote machen mürbe" – so bringt Anja Köllner auf den Punkt, warum es besser ist, die Kinder spielerisch zu Mittlern zu machen, statt ganzen Familien gegenüber zu moralisieren. Bei den Kindern selbst funktioniere es im Übrigen ähnlich. Siehe die "Naschecke" im Garten, in der Johannisbeeren und sogar Kiwis wachsen. Gekaufte Süßigkeiten? Im Sommer uninteressant!

Was macht so ein Imker eigentlich? Die mit dem Bienenwachs aufkommende Kinder-Forscher-Frage war dann Ausgangspunkt für ein Weitergehen. Die St.-Nikolaus-Kinder wissen jetzt: Wildbienen, Insekten überhaupt sind in Gefahr, viele Arten drohen auszusterben. "Als ich als Erzieherin angefangen habe, hat es hier im Garten viel mehr gebrummt und gesummt", berichtet Anja Köllner.

An diesem Donnerstag will die "Sternengruppe" nun in dieser Sache was tun. Der Regen hat nachgelassen. Mit Harken, einem Eimer voller Komposterde und einer Dose voller Ringelblumen-, Sonnenblumen-, Malven- und Wicken-Samen im Gepäck legt eine Vierergruppe im hinteren Teil des Gartens los. "Die Bienen essen das", weiß die zweijährige Raisa, die jetzt eifrig einen vielleicht vier Quadratmeter großen Bereich bearbeitet: den Boden lockern, dann behutsam die Saat verstreuen, schließlich das Ganze mit "guter Erde" bedecken.

Aufnahmebereit für Nährstoffe

Immerhin: Ein paar Meter weiter drüben, wo vorletzte Woche die "Weltentdecker" ein Stück bienenfreundliche Wiese angelegt haben, da sprießt schon was. Raisa kann das sehen, so wie sie kürzlich den Apfelbaum im vorderen Teil des Gartens voller Blüten gesehen hat. "Nur eine bestäubte Blüte bringt im Spätsommer eine Frucht hervor", hat ihr eine Erzieherin erklärt. Und dass nur so im Herbst wieder Apfelmus gekocht und Äpfel in Ringe geschnitten und im Dörrautomaten getrocknet werden könnten. "Da schließt sich der Kreis" – das denkt Anja Köllner zwischenzeitlich oft. Und Kreisläufe gibt es hier viele.

Kompost ist Abfall? Nein! Allerdings braucht "gute" Erde Zeit – drei Jahre, bis sie aus Küchenabfall entstanden ist. Drüben, in der Gärtnerei, ist der Kompost schon viel größer. Und wuselt. Neulich waren die Kinder dort. Eine Glas-Box mit vielleicht zwei Dutzend Regenwürmern steht seitdem im Gruppenraum. "Schau", sagt Livia und deutet auf Spuren am Glas, die zeigen, wo sich ein Regenwurm lang geschlängelt ist. Und auf kleine Hohlräume dahinter, die demonstrieren, was das heißt, wenn man sagt: Der Boden wird aufgelockert. "Aufnahmebereit für Nährstoffe", wie die Erzieher sagen.

In einem von den Kindern selbst produzierten "Plastik-Rap" kommt die Freude über das Erkennen solcher Zusammenhänge zum Ausdruck. "Bienenwachs statt Folie – da sparen wir noch Kohle", "Quetschies, die sind ’ne doofe Mode – pack dein Obst in eine Dose" … Vorletztes Jahr wurde das Obergeschoss des Kindergartens vorübergehend zum Tonstudio umfunktioniert. Schon die Jüngsten singen mit, wenn der Song jetzt durch die Räume schmettert.

Die "Ost-Macke": Alles soll wiederverwendet werden

"Mag sein, dass sie nicht alles verstehen", überlegt Anja Köllner, "aber diese gewisse Haltung", ist sie sicher, "die prägt sich ein." Und über die liebevollen Details, die man hier vielerorts findet, dürfte die sich noch festigen: Hier ein mit Stiefmütterchen bepflanzter kaputt gegangener Schuh im Kräuterbeet. Da die ausrangierten Gummistiefel am Geländer, aus denen Vergissmeinnicht wachsen. In den Bäumen hängen zu Vogelhäuschen umfunktionierte, bunt bemalte Tetra Paks. Eine aufgebohrte Konservendose fungiert als Insektenhotel. 

Erzieherin Elisabeth Kirsch nennt es eine "Ost-Macke", alles irgendwie wiederverwenden zu wollen. Wie auch immer: Die Hoffnung ist groß. Dass das Denken in Kreisläufen zum Schuleintritt vielleicht ein Stück weit in Fleisch und Blut übergegangen ist. Nach vier Jahren in einem Kindergarten, der nicht weniger als diesen Planeten zu einem besseren Ort machen will.

Kleine Forscher

Das "Haus der kleinen Forscher" ist eine bundesweite Fortbildungsinitiative für Pädagoginnen und Pädagogen in Kita, Hort und Grundschule. Ziel der gemeinnützigen Stiftung, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird: Kinder qualifiziert beim Entdecken, Forschen und Lernen begleiten. Mittlerweile gibt es 5700 zertifizierte Einrichtungen.

Ausgezeichnete Kita

Der katholische Kindergarten St. Nikolaus arbeitet nach dem "lebensbezogenen Ansatz": Natur als Gottes Schöpfung ist fest im Leitbild der Einrichtung verankert. Die Kita wurde beim bundesweiten Wettbewerb "Forschergeist 2020" (www.forschergeist-wettbewerb.de) mit dem Projekt "Achtsamkeit für uns und unsere Umwelt" als Landessieger für Thüringen ausgezeichnet.

Für zu Hause

Auf der Website "Das Haus der kleinen Forscher" (hdkf.de) gibt es zahlreiche Anregungen für Experimente, die interessierte Familien zu Hause umsetzen können. Zum Beispiel: Limo selber machen, "die Rosinendisco" (was passiert, wenn man Rosinen ins Sprudelwasser kippt?) oder "Wasser reinigen im Sandkasten".

9/ 2021 ELTERN

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