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Stimmt das? Viele Ältere meinen: "Die heutigen Eltern wissen nicht, was Erziehung ist!"

Mädchen schreit
© Krakenimages.com / Shutterstock
Dieser Satz fällt heute häufiger. Und meistens sagen ihn ältere Leute über jüngere Eltern. Es gibt wahrscheinlich wenige Eltern, die ihn noch nicht zu Ohren bekommen haben. Autor Matthias Kröner, Vater von zwei Jungs, kann das so nicht auf sich sitzen lassen.

Vor einiger Zeit geriet ein Café in unserer Nachbarschaft ins Kreuzfeuer. Weil es in seiner "Hausordnung" mitgeteilt hatte, dass Kinder unter sechs Jahren nicht erwünscht seien. Die Empörung in den sozialen Medien und auch in meinem Freundeskreis war groß: Geht ja gar nicht, kinderfeindlich, wie können die nur ... Es gab einen regelrechten Shitstorm. 

So weit, so erwartbar. Es gab aber auch die anderen Reaktionen, und die klangen ungefähr so: "Wir verstehen die Betreiber des Cafés, denn viele Kinder sind heute zu laut, zu wild, zu unerzogen. Und viele Eltern haben ihre Kinder nicht mehr im Griff."

Dieser Satz hat mich erwischt. Denn er kommt mir allzu bekannt vor: Als unsere Kinder noch viel kleiner waren, erlebten wir in Cafés oder Restaurants oft dasselbe. Obwohl wir sie nie (!) zwischen den Tischen herumtoben ließen, obgleich sie unter keinen Umständen (!) mit Schuhen auf die Polster steigen durften, never ever (!) Bananen zwischen den Sitzen zerdrückten oder gar laut herumschrien (!) und wir sie ständig zur Ruhe mahnten, waren sie logischerweise lauter als alle Erwachsenen. Weil sie Kinder sind. Weil sie ein Jahr alt waren oder fünf. Doch von irgendwoher kam immer ein böser Blick, bei dem unausgesprochene Sätze mitschwangen: "Die heutigen Eltern, tss …! Die wissen nicht, was Erziehung ist."

Inzwischen sind die Jungs zehn und sechs. Und statt zusammen in Cafés zu gehen, spielen wir heute lieber eine Runde Fußball. 

Dabei geht es manchmal rau zu. Obwohl ich sehr vorsichtig spiele, kann es vorkommen, dass wir zusammenrasseln. Fußball halt. Doch unser Zehnjähriger ist impulsiv. Er beschimpft mich dann. Einmal sagte er viel zu laut: "Ich habe einen total dummen Papa!! Ich glaube, mit deinem Gehirn ist etwas nicht in Ordnung."

Unsere Nachbarn bekommen das alles mit. Die wenigsten dieser Nachbarn haben kleine Kinder, und ich ahne, was sie denken: "Die Erziehung dieser Familie ist gescheitert. Die haben ihre Kinder nicht richtig im Griff."

Und ja, ich gebe es zu: Dieser Satz, egal ob ausgesprochen oder gedacht, prallt auch an mir nicht einfach ab. 

Ich selbst hatte nämlich eine Kindheit, in der dieser Satz noch galt: Wenn ich früher "blöder Papa!" gesagt habe, passierte das genau einmal. Dann gab es eine "gscheite Schelln" (fränkisch für Ohrfeige), Wut wurde konsequent weggesperrt ("Geh in dein Zimmer!"), und es war völlig normal zu strafen ("Du bekommst jetzt Fernsehverbot!"). Ich wusste ganz genau, was möglich war und was nicht. Schlagkräftige Argumente wirken immer … wenn auch auf zweifelhafte Weise. 

Wie es den Kindern früher ging

Damals fühlten wir uns als Kinder nicht ernst genommen und spürten, dass oft über unsere Wünsche und unsere großen Gefühle hinweggebügelt wurde. Sätze wie "Was ist denn heute schon wieder los?!" oder "Du hast wohl nicht ausgeschlafen!" waren ganz normal, wenn unsere Eltern mit uns überfordert waren. Und ich erinnere mich an einige Väter meiner Kumpels, die netter zu mir waren als zu ihren eigenen Kindern. Warum?, frage ich mich heute. Hatten sie Angst, dass sie ihre Kinder "verziehen", wenn sie ihnen Verständnis entgegenbrachten oder einfach nur Freundlichkeit?

Wussten sie nicht, dass der Motor der Wut Verzweiflung heißt? Dass jemand, der wütend wird, oft von einer Situation überfordert ist – egal, ob es der Chef ist, der Partner oder das eigene Kind …? 

Doch nein, ich will meinen Eltern hier keinen Vorwurf machen, denn auch sie hatten Eltern, die es nicht besser wussten. Meine Großeltern. Sie waren zwar sehr liebevolle Erwachsene – jedenfalls mir gegenüber. Sie wurden nie müde, mir zuzuhören. Doch von meiner Oma weiß ich, dass ihre Kinder, also auch meine Mutter, Angst vor ihrem Vater hatten. "Das war eben früher so", sagte sie und zuckte bedauernd die Achseln. Manchmal erzählten mir beide lachend, dass Kinder damals am Tisch nicht reden durften. 

Bei solchen Erzählungen frage ich mich: Ist es nicht gut, dass Kinder sich heute trauen, selbstbewusst ihre eigene Meinung zu vertreten, dass sie nicht mehr einfach nur Beiwerk sind und gelernt haben, "Nein!" zu sagen – auch, wenn das manchmal anstrengend ist? Ich frage mich auch, ob es sein kann, dass sich vielleicht manche Erwachsene "nicht im Griff haben", weil sie einem Erziehungsmodell aus alten Zeiten verhaftet sind – auch dann, wenn sie es eigentlich ablehnen und selber darunter gelitten haben? Und ich frage mich, ob es bei der Vorstellung, einen Menschen im Griff haben zu wollen, wirklich noch um Erziehung geht? Oder nicht eher um Konditionierung, Dressur, Gehorsam, Gewalt? 

Ich glaube, viele Eltern meiner Generation wissen, dass sie das nicht wollen. Aber wie geht es besser? Dafür haben wir kaum Vorbilder. Wie man Kinder erziehen soll, ist heute weniger klar definiert, als es zu meiner Kindheit war – und vor allem sind wir uns dabei nicht einig. Stattdessen stellen wir heute sogar den Begriff "Erziehung" infrage. Und setzen eher auf "Beziehung".

Ich will nicht die Kinder im Griff haben, sondern die Situation

Zurück zum abendlichen Kicken: Sobald sich unser Großer eine fette Schramme zuzieht, setze ich mich neben ihn und versuche zu trösten. So gut das halt geht in dieser emotional aufgeladenen Stimmung, in der – worst case! – vielleicht auch noch ein Tor für mich gefallen ist. Sein kleiner Bruder kommt meist dazu, spielt Arzt und streichelt das geschundene Bein seines großen Vorbilds. Der Große regt sich währenddessen auf, meist über mich, auch wenn ich gar nichts dafür kann. Aber der Frust muss irgendwie raus. Irgendwann sage ich dem Zehnjährigen dann auch, dass ich es absolut gar nicht gut finde, wie er mit mir redet. Aber in erster Linie bin ich für ihn da. Denn ich bin überzeugt: Man kann Mitgefühl nur lernen, wenn man selbst etwas davon bekommt. 

Das wiederum heißt nicht, dass bei uns immer alles gelassen abläuft. Es gibt genug Situationen, die mich in den Wahnsinn treiben und meine Nerven aufs Äußerste strapazieren. Dazu gehören Abendessen, bei denen nur rumgemäkelt wird ("Bääh, schmeckt eklig!") und nach dem Zähneputzen der große Hunger kommt. Auch die allabendlichen Fertigmach-Orgien ­rauben mir den Verstand. Es dauert ewig, bis die beiden sich ihre Klamotten ausziehen, zwischendurch streiten (denn fertig machen ist laaangweilig!), sich wieder versöhnen, irgendwann waschen und dann doch ihre Zähne putzen. 

Oft habe ich keine Idee, wie ich diesen Vorgang beschleunigen soll. Und ja, ich könnte jetzt auf den Tisch hauen und zumindest so tun, als hätte ich alles im Griff. 

Aber das will ich nicht, das passt nicht zu mir! Außerdem dauert es immer länger, wenn ich aus purer Verzweiflung doch laut werde. 

Manchmal frage ich dann meine Kinder, ob sie eine Lösung haben. Ich sage: "Es ist jetzt viertel vor acht. Ihr wisst, dass Mama und ich in einer halben Stunde zu zweit sein wollen und nichts mehr lesen können, wenn ihr euch jetzt nicht beeilt. Habt ihr einen Vorschlag, wie wir das noch hinbekommen?" Manchmal geben sie super Antworten. Einmal forderten sie einen Wecker, der ihnen Bescheid sagt, wann sie sich richtig beeilen müssen. Ein anderes Mal verschwand der Große und kam mit einer Schiedsrichterpfeife zurück. Er stellte sich vor seinen kleinen Bruder: "Ausziehen!", rief er und pfiff. Der Kleine gab Gas und hatte viel Spaß dabei. 

Man könnte sagen, da hatte ich die Kinder 1a im Griff. Ich sehe es anders: Wir hatten die Situation im Griff. Alle zusammen. Das ist ein großer Unterschied. 

Und für alle, die jetzt wissen wollen, wie unser Fußballspiel ausging, nachdem der Satz mit dem degenerierten Vatergehirn gefallen war: Nein, es gab kein Fernsehverbot und natürlich auch keine "gscheite Schelln". Weitergespielt haben wir aber auch nicht. Ich hatte keine Lust mehr. Die Stimmung war dahin. 

Doch eine halbe Stunde später kam unser Großer zu mir, entschuldigte sich ernsthaft und meinte, dass sein Verhalten gerade nicht so toll war. "Papa, ich war einfach total sauer."

Wow, dachte ich. Wenn das alles dazu führt, dass er versteht, was in ihm abgeht und wie er es vielleicht beim nächsten Mal unter Kontrolle kriegt, bin ich sehr zufrieden. Schade nur, dass das mal wieder niemand gehört hat …

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