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Introvertiertes Kind? Kein Grund zur Sorge!

Introvertiertes Kind? Schüchternes Mädchen steht unter einem Baum
© stockfour
Zurückhaltend sein ist heute nicht so angesagt. Im Gegenteil: Wer laut, willensstark und risikofreudig ist, kommt weiter! Unsere Autorin Eva Lohmann war das introvertierte Kind einer extrovertierten Mutter. Jetzt hat sie selbst eine kleine Tochter, die – Überraschung! – eher extrovertiert ist. Grund genug, sich die Sache mit den Intros und den Extros mal genauer anzugucken.

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Als ich merkte, dass ich schwanger bin, und dann wusste, dass es ein Mädchen wird, habe ich sofort versucht, mir vorzustellen, was für ein Mensch meine kleine Tochter sein würde. Ich habe mich nicht gefragt, ob sie mir ähnlich sehen wird. Ob wir die gleiche Haarfarbe, die gleichen Hände, das gleiche Lachen haben werden. Mich beschäftigte nur eine Frage: Wird sie so introvertiert werden, wie ich es bin? Wird sie genau wie ich die Ruhe lieben, nachdenkliche Fragen stellen, auf Kindergeburtstagen etwas verloren wirken und nachmittags stundenlang zum Lesen in ihrem Zimmer verschwinden? Wird sie immer ein bisschen verträumt aussehen, in der Schule den Mund nicht aufmachen und sich auf Partys fühlen wie ein aufgescheuchtes Reh auf einem Rockkonzert? Man sagt, dass Menschen auch deswegen Kinder bekommen, weil sie sich wünschen, einen Teil von sich an die nächste Generation weiterzugeben. Und obwohl meine Introvertiertheit mir das Leben oft schwer gemacht hat, träumte ich davon, dass es genau diese Charaktereigenschaft wäre, die ich meinem Kind vererben würde.

Alles schon vorherbestimmt?

Ob ein Mensch eher extrovertiert oder introvertiert ist, kann man nach Ansicht des US-Entwicklungspsychologen Jerome Kagan bereits im Baby-Alter feststellen. Er machte an der Harvard University Experimente mit vier Monate alten Säuglingen: Die Babys wurden mit zerplatzenden Luftballons, bunten Mobiles und anderen Reizen konfrontiert. 20 Prozent der Kinder reagierten besonders empfindlich. Sie verzogen ihre Gesichter oder fingen an zu weinen. Viele Jahre später, als aus den Babys Erwachsene geworden waren, testete Kagan sie wieder und stellte fest: Die 20 Prozent der Kinder, die damals besonders heftig auf Reize reagiert hatten, waren zu eher introvertierten Menschen geworden. Als meine Mutter vor fast 40 Jahren mit mir schwanger war, wusste sie nichts von Kagan und seinen Untersuchungen. Alles, was sie wusste, war, dass sie ein kleines Mädchen bekommen würde. Ein Mädchen, das, so wünschte man es sich in den alternativen Kreisen Anfang der Achtziger, wild und laut und wunderbar sein sollte. Ein abenteuerlustiges Mädchen, das mit aufgeschlagenen Knien und erhobenem Kopf durch die Welt rennen und sich von niemandem etwas sagen lassen würde. Eine kleine Pippi Langstrumpf wollte sie haben.

Meine Mutter, man ahnt es schon, war ein eher extrovertierter Mensch. Und sie wünschte sich ein extrovertiertes Kind. Die Idee, Menschen in eher introvertierte und eher extrovertierte Persönlichkeitstypen aufzuteilen, stammt vom Schweizer Psychologen Carl Jung. Er stellte fest, dass Menschen sehr unterschiedlich mit ihrer Umgebung interagieren. Extrovertierte richten ihre Aufmerksamkeit eher nach außen. Sie gewinnen Energie durch Austausch mit anderen. Introvertierte hingegen verlieren dadurch ihre Energie. Um sich zu erholen, brauchen sie Ruhe und Zeit allein. Eine Tatsache, die auf Extrovertierte befremdlich wirken kann.

Zurückhaltung statt Pippi Langstrumpf

Statt eines lauten, wilden Kindes bekam meine Mutter also mich. Ein stilles, nachdenkliches Mädchen. Natürlich liebte sie mich abgöttisch, wie sich das gehört. Und trotzdem war da was. Etwas, was nicht ganz passte. Etwas, was ich spürte, je älter ich wurde. Eine kleine Unsicherheit meiner Mutter, wenn ich auf dem Spielplatz stundenlang die anderen Kinder beobachtete. Eine winzige Unzufriedenheit, wenn ich beim Familienpicknick lieber mit einem Buch am Rand des Geschehens saß. Die Sache manifestierte sich schließlich in diesem einen Satz meiner Mutter: "Spiel doch mal mit den anderen Kindern." Wie habe ich diesen Satz gehasst. Lob hingegen bekam ich immer dann, wenn ich mal aus mir herauskam. Wenn ich zwischendurch eben doch mal wild und laut und wunderbar war. Nein, sie hat nie versucht, mich zu beeinflussen. Aber Kinder sind schlau, und sie bekommen auch ohne Worte mit, was man sich von ihnen wünscht.

Und so bekam ich das Gefühl, das viele introvertierte Kinder irgendwann bekommen. Dass irgendwas nicht richtig ist mit mir. Und tatsächlich: Studien zufolge werden in unserer Kultur extrovertierte Menschen als kompetenter und sympathischer wahrgenommen. Jenseits von Pandemien wie Corona liebt unsere Gesellschaft Massenevents, Teamarbeit, Großraumbüros. In sich gekehrte Kinder können dabei übersehen werden. Zumindest ist das die Angst der Eltern. Wenn dann noch Lehrer bemängeln, dass das Kind sich nicht genug am Unterricht beteilige, hat man aus einem simplen Charakterzug schnell ein vermeintliches Problem gebastelt. Woraufhin dann das wirkliche Problem entsteht: ein Kind, das das Gefühl hat, nicht richtig zu sein.

Eine Frage der Kultur

Dabei ist die Beurteilung von Charaktereigenschaften auch kulturabhängig: In Japan etwa gilt es als erstrebenswert, leise aufzutreten. In Amerika hingegen herrscht eher eine Art Cheerleader-Mentalität: Hier werden introvertierte Kinder auch schneller zum Psychologen geschickt. Irgendwann bekam dann meine beste Freundin ihren ersten Sohn. Er hatte alle Eigenschaften, die introvertierte Kinder ausmachen. Er beschäftigte sich lange und ausführlich mit irgendwelchen Playmobilraumschiffkonstruktionen und hatte große Angst vor Kindergeburtstagen. Kurz: Er war das introvertierteste Kind, das ich je kennengelernt habe. Und er eroberte mein Herz im Sturm. Meine Freundin zweifelte. Manchmal war sie auch genervt. Warum wirkte ihr Sohn so passiv? Wie sollte er mit dieser Art je lernen, sich in dieser Gesellschaft durchzusetzen?

Das Lieblingsbuch ihres Sohnes erzählte die Geschichte von einem Bären, der Geburtstag hatte – und sich überhaupt nicht darauf freute, weil er keine Lust auf eine große Party mit den vielen anderen Bären hatte. Jedes Mal, wenn ich meine Freundin besuchte, las ich mit ihrem Sohn dieses Buch. Introvertierte brauchen Verbündete, damit sie merken, dass sie nicht allein sind. Der Verbündete des Bären ist sein bester Freund. Er fragt den Bären, worauf er denn Lust hätte, an seinem Geburtstag. Die beiden verbringen dann einen sehr ruhigen Tag beim Angeln, dem wahrscheinlich introvertiertesten Hobby der Welt. Nur die Angel, der beste Freund und ein Geburtstagskuchen. Wenn introvertierte Kinder lernen, dass es vollkommen okay ist, keine Lust auf laute Geburtstagspartys zu haben, kann das sehr erleichternd sein. Es bedeutet weder, dass sie komisch sind, noch dass sie einsam sein müssen.

Die Stärken der Stillen

Im Gegenteil: Weil sie gut zuhören und sich fantastisch in Menschen hineinfühlen können, sind sie in der Lage, schon in frühen Jahren tiefe Freundschaften aufzubauen. Und auch beruflich können sie viel erreichen: Denn sie haben ein reiches Innenleben und sind oft sehr kreativ. Sie können sich gut einfühlen, Dinge stundenlang vertiefen, detailliert arbeiten. Und werden später erfolgreiche Wissenschaftlerinnnen, Schriftstellerinnnen – ja sogar Schauspieler oder Bundeskanzlerinnen. Nachdem der Sohn meiner Freundin aus dem Bilderbuch-Alter herausgewachsen war, schenkte sie mir das Buch. Und als ich endlich schwanger war, fiel es mir wieder in die Hände. Ich würde dieses Buch mit meiner Tochter lesen. Ihr zeigen, dass es völlig okay ist, kein lauter Mensch zu sein. Ihr Tipps geben, wie man als stiller Mensch in der Schule überlebt. Ich würde sie wissen lassen, dass auch den leisen Menschen die Welt offensteht.

Und wenn sie sich auf einer Party jemals fühlen würde wie ein Reh auf einem Rockkonzert, dann würde ich kommen – und sie da rausholen. Als meine Tochter dann zur Welt kam, beobachtete ich ziemlich genau, wie sie auf Reize reagierte. Nicht sehr viel anders als andere Kinder, stellte ich fest. Fröhlich glucksend ertrug sie laute Musik, bunte Mobiles, chaotische Partys. Ich war ein winziges bisschen enttäuscht. Kann ja noch werden, dachte ich. Mittlerweile ist meine Tochter vier Jahre alt. Sie sieht aus wie eine kleine Kopie von mir. Wir haben die gleiche Haarfarbe, die gleichen Hände, die gleiche Stimme. Aber – sie ist nicht introvertiert. Im Gegenteil. Sie liebt alles Trubelige, zieht sich niemals in ihr Zimmer zurück und braucht Erholungspausen sehr viel seltener als ich. Eventuell ist meine Tochter extrovertiert. Ein extrovertiertes Kind mit einer introvertierten Mutter. Aber das ist wieder eine ganz andere Geschichte.

Introvertiert oder schüchtern?

Die Fachwelt unterscheidet: Hinter Schüchternheit steckt oft die Angst, von anderen abgelehnt oder kritisiert zu werden. Daher halten sich schüchterne Menschen oft im Hintergrund. Introvertierte Menschen haben diese Angst meist nicht. Sie richten ihre Aufmerksamkeit lieber auf ihr Innenleben, als mit dem Außen zu kommunizieren.

Die Biochemie macht den Unterschied

Das Gehirn eines Introvertierten ist reizempfindlicher, das Grundniveau der Erregung um einiges höher. Zu viele Außenreize führen zur Überforderung. Bei Extrovertierten läuft es umgekehrt: Geringe Innenreize brauchen starke Außenreize fürs ideale Erregungsniveau.

Zum Weiterlesen

Introvertiertes Kind? Buchcover "So schön still"
Eva Lohmann hat ein Buch über die Stärken und Bedürfnisse introvertierter Kinder geschrieben: In "So schön still" erklärt sie, wie es sich anfühlt, ein stiller Mensch in einer lauten Familie zu sein: Wie funktioniert der Alltag, wenn einer Ruhe braucht und der andere Input Wie kann man Eltern die Angst nehmen, ihre stillen Kinder könnten in unserer extrovertierten Gesellschaft untergehen? Warum überhaupt denken so viele Menschen, introvertiert zu sein wäre etwas schlechtes?
Und Lohmann hat den Bogen noch weiter gesponnen: Im zweiten Teil des Buches widmet sich die Autorin introvertierten Eltern.
Denn auch sie haben ein Recht auf Ruhe, das liebevoll durchgesetzt werden kann - ohne dass der Rest der Familie dabei auf der Strecke bleibt.
(260 Seiten, Rowohlt, 16 Euro)
© Rowohlt
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