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Geburtskomplikationen Nehmen die Probleme zu?

Geburtskomplikationen: eine Frau hält ein neugeborenes Baby in den Armen
© Anna Nahabed / Shutterstock
Seit einigen Jahrzehnten nehmen Komplikationen bei der Geburt zu – nicht schnell, aber stetig. Ein Gespräch mit Professor Philipp Mitteröcker, Evolutionsbiologe an der Universität Wien, über schmale Becken, große Babyköpfe und den Einfluss des medizinischen Fortschritts auf die Evolution.

Eltern: Irgendwie ist es doch ungerecht: Während bei den meisten Säugetieren die Babys bei der Geburt mühelos herauspurzeln, müssen sich Menschenmamas und -babys ziemlich anstrengen. Warum ist das so?

Philipp Mitteröcker: Das ist sozusagen der Preis, den wir für den aufrechten Gang bezahlen. Es gab da diese Abzweigung vor über sechs Millionen Jahren, als sich der Mensch und der Schimpanse in ihrer Entwicklung trennten. Während der Schimpanse weiter auf vier Beinen lief, begann beim Menschen die Entwicklung zum Zweibeiner. Dafür musste sich sein ganzer Körperbau verändern, auch das Becken. Um den Oberkörper und das Gewicht der inneren Organe halten zu können, wurde es ein schmaler und wenig flexibler Knochenring. Zunächst war das kein Problem, es blieb noch genug Platz fürs Baby.

Der aufrechte Gang war also nicht das einzige Problem?

Genau, erst vor ein bis zwei Millionen Jahren wurde es richtig eng: Das menschliche Gehirn gewann an Masse, die Köpfe von Neugeborenen wurden immer größer und größer. Es kam zum Geburtsdilemma, wie wir Evolutionsbiologen sagen. Zwei entgegengesetzte Selektionskräfte kamen sich in die Quere: Aus evolutionärer Sicht ist ein schmales Becken für Frauen von großem Vorteil, einerseits für ihre Fortbewegung, andererseits zur Vorbeugung eines Gebärmuttervorfalls und von Inkontinenz. Auf der anderen Seite erhöhen sich die Überlebenschancen eines Babys, je größer es bei der Geburt ist. Zumindest bis zu einem gewissen Punkt – an dem es dann abrupt tödlich wird.

Sie spielen auf eine der häufigsten Geburtskomplikationen beim Menschen an, das Schädel-Becken-Missverhältnis ...

... von dem schätzungsweise zwei bis sechs Prozent der Geburten in Europa betroffen sind. Wenn der Kopf des Babys zu groß ist für das Becken der Mutter, kommt es zum Geburtsstillstand – eine lebensbedrohliche Situation.

Zum Glück muss heute bei uns keine Frau und kein Baby mehr deswegen sterben – dank Kaiserschnitt!

Das ist wirklich eine große Errungenschaft der Medizin! Nur führte der Kaiserschnitt selbst paradoxerweise auch dazu, dass es immer mehr Frauen mit schmalem Becken gibt.

Wie das?

Eigentlich halten sich die beiden eben beschriebenen Selektionskräfte immer knapp die Waage – es ist der beste Kompromiss, den die Natur hinbekommen konnte, um im Darwinschen Sinn das Maximum an gesunden und fitten Nachkommen zu erzielen. Durch die vielen Kaiserschnitte fiel aber eine dieser Kräfte weg, nämlich die hin zum breiten Becken. Es häuften sich mehr Gene für ein schmales Becken an. Und weil dieses Merkmal dank Kaiserschnitt nicht mehr zum Tod von Mutter und/oder Kind führt, wird es an die nächste Generation vererbt. In unseren Untersuchungen konnten wir zeigen, dass die Fortschritte in der Medizin schon nach zwei Generationen in unserer Biologie nachweisbar sind. Unsere mathematischen Berechnungen ergaben, dass seit den 1960er-Jahren die Anzahl der Schädel-Becken-Missverhältnisse bereits um einen halben Prozentpunkt zugenommen hat.

Für so ein kurzes Stück Menschheitsgeschichte eine rasante Entwicklung. Passiert Evolution nicht eigentlich viel langsamer, im Lauf von Millionen von Jahren?

Das kann man nicht generell so sagen. Für manche Bereiche stimmt das, etwa für die Entstehung ganz neuer Arten. Aber innerhalb einer Art können Veränderungen sehr schnell passieren, erst recht, wenn der Mensch seine Finger im Spiel hat. Schauen Sie sich nur an, wie schnell die Tierzucht aus einem Wolf einen Pudel gemacht hat.

Es ist eine etwas unheimliche Vorstellung, dass der Mensch so einen großen Einfluss auf die Evolution hat.

Ja, wir machen uns das im Alltag nicht so bewusst. Aber es kann auch entlastend sein, zum Beispiel für Frauen, die sich selbst die Schuld an einem Kaiserschnitt geben. Das Thema Kaiserschnitt ist bei uns ja recht emotional besetzt. Viele Frauen fühlen sich schlecht nach einer Sectio. Die hohe Kaiserschnittrate hat viele Gründe – soziale, wirtschaftliche oder infrastrukturelle. Wir konnten zeigen, dass es noch einen weiteren gibt, nämlich die Biologie. Für ein schmales Becken kann niemand etwas!

In Ihren neuesten Arbeiten haben Sie außerdem herausgefunden, dass auch die veränderten Lebensbedingungen der Menschen einen Einfluss auf die Kaiserschnittrate haben.

Das war Teil zwei unserer Forschungsarbeit. Wir fragten uns: Wenn schon die genetischen Veränderungen so einen großen Einfluss auf die Kaiserschnittrate haben, wie ist es dann mit den Lebensbedingungen der Menschen, die sich so rasant verändern? Die Ernährung wird vielerorts immer besser, sie wird fettreicher und mehr. Die Menschen werden dadurch größer, auch dicker. Das müsste doch einen noch deutlicheren Effekt auf die Geburtsprobleme haben!

Und?

Unsere Hypothese hat sich bestätigt. Erst mal war es interessant festzustellen, dass Geburten nicht überall auf der Welt gleich schwer sind, sondern dass das je nach Lebensbedingungen variiert. Selbst nachdem wir alle sozioökonomischen, rechtlichen und kulturellen Ungleichheiten herausgerechnet hatten, blieben große Unterschiede in den Kaiserschnittraten bestehen. Dort, wo sich die Lebensbedingungen einer Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten relativ schnell verändert haben, stieg auch die Kaiserschnittrate überproportional stark an. In Ländern wie Ägypten, in der Türkei oder Brasilien liegt sie zum Beispiel bei etwa 50 Prozent.

Das klingt ja erst mal paradox. Warum wird die Geburt schwieriger, wenn die Lebensbedingungen besser werden? Müsste es nicht eher umgekehrt sein?

Auch hier spielt die Größenzunahme des Menschen die entscheidende Rolle. Wir konnten für unsere Studie auf aktuelle globale Daten zurückgreifen, die die Größenentwicklung des Menschen in den letzten 100 Jahren dokumentierten. Sie zeigen: Verbessern sich die Lebensbedingungen, werden die Menschen immer größer, und zwar von Generation zu Generation. Weil ein Fötus seiner Mutter ja immer eine Generation voraus ist, erfährt er schon im Mutterleib die besseren Umweltbedingungen und kommt größer zur Welt als für den mütterlichen Geburtskanal gut ist. Stark verbesserte Lebensbedingungen können Geburten also tatsächlich erschweren und damit auch die Kaiserschnittrate erhöhen.

Kann man das in Zahlen fassen?

Ja, wir haben das ziemlich genau berechnen können. Eine durchschnittliche Körpergrößenzunahme von einem Millimeter pro Jahr, wie sie in vielen Ländern typisch für das 19. und 20. Jahrhundert war und wie sie auch heute noch in vielen Schwellenländern auftritt, erhöht die Kaiserschnittrate im Schnitt um etwa zehn Prozent. Weltweit betrachtet zeigen unsere Analysen: Die durchschnittliche Körpergrößenveränderung von 1971 bis 1996 erklärt etwa ein Drittel der globalen Varianz in der aktuellen Kaiserschnittrate.

Muss man vor diesem Hintergrund nicht auch die von der Weltgesundheitsorganisation seit Jahrzehnten geforderte "ideale Kaiserschnittrate" von 10 bis 15 Prozent infrage stellen?

Absolut. Die menschliche Biologie und Gesundheit sind nicht statisch, sondern im Fluss, und noch dazu von Region zu Region sehr unterschiedlich. Da ist es durchaus problematisch, eine globale Idealrate auszurufen.

Wo führt uns diese ganze Entwicklung hin? Wird sie die natürliche Geburt immer schwieriger machen?

Gerade in Bezug auf die Lebensbedingungen sehen wir auch rückläufige Tendenzen. In vielen Industrieländern hat sich die Zunahme von Körpergröße und Geburtsgewicht schon wieder abgeflacht – mit entsprechender Auswirkung auf die Kaiserschnittrate. In vielen afrikanischen Ländern haben Größe und Gewicht seit den 1970er-Jahren sogar kontinuierlich abgenommen. Auch da sehen wir ganz andere Zahlen als in den Schwellenländern.

Und wenn wir auf den medizinischen Fortschritt schauen? Ist der Kaiserschnitt vielleicht nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zum Retortenkind?

Aus evolutionärer Sicht sehe ich diese Gefahr nicht. Der medizinische Fortschritt hält zwar die evolutionäre Entwicklung nicht auf, er kann evolutionäre Veränderungen wie die Zunahme von Kaiserschnitten sogar selbst erst lostreten. Doch auf anderen Gebieten kann er dieser Entwicklung auch entgegenwirken. Nehmen wir die immer besser werdende neonatologische Versorgung von Frühchen – durch sie haben auch sehr kleine Neugeborene gute Chancen. Weil sie überleben, wird die Selektion hin zu größeren Neugeborenen wieder reduziert. Die Behandlung von Beckenbodenschwächen wiederum reduziert die Selektion hin zu schmaleren Becken.

Verlässliche Prognosen sind also kaum möglich.

Es ist eine ständige Dynamik, von der wir noch gar nicht genau wissen können, wo sie hinführen wird. Die Gesundheits- und Wissenschaftspolitik würde gut daran tun, hier in neonatologische und gynäkologische Forschung zu investieren. Wenn wir mehr über diese Zusammenhänge wissen, können wir gezielt der evolutionären Zunahme von Schädel-Becken-Missverhältnissen entgegenwirken.

Der Österreicher Philipp Mitteröcker, 45, lebt und arbeitet in Wien. Er ist Evolutionsbiologe und Anthropologe und seit 2017 assoziierter Professor für theoretische Biologie an der Fakultät für Lebenswissenschaften an der Universität Wien. Einer seiner Forschungsschwerpunkt ist der Einfluss von technologischem und medizinischem Fortschritt (insbesondere des Kaiserschnitts) auf die evolutionären Veränderungen in modernen Gesellschaften.

ELTERN

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