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Adrienne Friedlaender "Kinder müssen draußen bleiben" – ist das ein Tabu?

Adrienne Friedländer: Schild am Swimmingpool
© Monkey Business Images / Shutterstock
Ob im Restaurant, Hotel oder in der Wellness-Auszeit - wenn Mütter, Väter, Paare sich bekennen, dass Kinder sie manchmal stören, geraten sie oft unter Beschuss. Warum eigentlich darf man nicht offen über das Potpourri von elterlichen Emotionen sprechen?

Ein hübsch gedeckter Tisch, eine Auswahl verführerischer Antipasti, Kerzenlicht, leise Jazzmusik im Hintergrund … Was ist schöner als ein romantischer Abend beim Italiener? Links von mir saß der Mann meiner Träume, rechts stand der Junge vom Nachbartisch. Mit vor Anstrengung rot leuchtenden Wangen erklomm er den freien Stuhl neben mir. "Hallo, ich bin der Tobi."

Hilfesuchend warf ich einen Blick zu den Eltern, die leider beide hochkonzentriert in die Speisekarte blickten. Kurzerhand nahm ich den süßen Blondschopf auf den Arm und brachte ihn mit einem Lächeln zurück an den Nebentisch. "Hier ist Ihr kleiner Ausreißer." "Unser Tobi ist sehr neugierig. Er mag nicht gern auf seinem Stuhl sitzen und geht lieber auf Entdeckertour. Das ist ja auch wichtig für seine Entwicklung", erklärten sie Tobias’ Besuch.

Ich kehrte zurück an unseren Tisch und widmete mich genussvoll den von Schinken umrollten Melonen und meinem Mann – bis Tobias zurückkehrte. Vor Freude glucksend, versteckte er sich unter unserem Tisch und kreischte, während er sich die weiße Damastdecke vor sein mit Tomatensauce verschmiertes Gesicht hielt. "Guck mal, wo bin ich?"

Eine junge Frau am Tisch gegenüber schenkte mir einen mitleidigen Blick, ein älteres Ehepaar schüttelte entsetzt den Kopf, nur die Eltern beachteten ihren Sohn nicht. Sie waren vollauf beschäftigt mit Tobias’ beiden kleinen Geschwistern. Johlend warfen sie Besteck und Servietten auf den Boden und amüsierten sich köstlich, dass Mutti immer wieder alles brav apportierte. Meine Stimmung rutschte in den Minusbereich. So hatte ich mir den Abend wirklich nicht vorgestellt!

Das sind doch nur Kinder!

Endlich fasste ich mir ein Herz, stand auf und ging zum Nachbartisch: "Entschuldigen Sie die Störung. Könnten Sie bitte Ihr Kind unter unserem Tisch hervorholen? Und die anderen beiden ein wenig zur Ruhe bringen? Wir würden sehr gern ungestört essen und den Abend genießen." Die Frau starrte mich fassungslos an. "Das sind doch nur Kinder. Soll ich die etwa anbinden und ihnen den Mund zupflastern?"

"Vielleicht könnten Sie ihnen ein Bilderbuch oder Steckpuzzle …" Weiter kam ich nicht, weil die Frau mit einem Ruck aufstand. "Ja klar, ich nehme das halbe Kinderzimmer mit ins Restaurant. Was meinen Sie denn, wie lange das Interesse an so einem Puzzle anhält, hm?"

Beleidigt zog sie ihren Sohn unter unserem Tisch hervor und setzte ihn mit den Worten "Du musst jetzt bei Mama bleiben" auf ihren Schoß. Dann zeigte sie auf mich: "Diese Frau da, die mag keine Kinder!" Und ihrem Mann flüsterte sie so, dass ich es gerade noch hören konnte, zu: "Wahrscheinlich ist das auch wieder so eine frustrierte kinderlose Zicke."

Tja, diese "frustrierte kinderlose Zicke" war und ist glückliche Mutter von vier Söhnen. Gerade deswegen hatte ich mich so sehr über diese Alltagsflucht gefreut. Eine kurze Auszeit mit meinem Partner – einmal ganz ohne Kinder. Und ich hatte wenig Lust, in diesen kostbaren Stunden von anderen Kindern gestört zu werden. Bin ich egoistisch und intolerant, wenn ich mich ab und zu nach kinderfreien Zeiten und Zonen sehne? Immerhin stehe ich 24/7 auf Abruf parat.

Jetzt mal ehrlich

Hand aufs Herz: Welche Frau ist trotz Gluckenglück nicht auch mal genervt von endlos dauerndem Zu-Bett-Bringen, lautstarkem Toben oder streitenden Geschwistern?

Adrienne Friedländer: Buchautorin Adrienne Friedländer
Die Buchautorin Adrienne Friedlaender.
© PR

Als junge Mutter geriet ich in den Neunzigern zum ersten Mal an meine Grenzen. Mein Sohn war ein unfassbares Energiebündel und konnte eine Kraft entwickeln, die für drei Einjährige gereicht hätte. Und das nicht nur tagsüber. Eines Freitagabends lag ich mitten im Kinderzimmer-Chaos erschöpft auf dem Fußboden und kämpfte mit den Tränen, während mein Sohn vergnügt auf mir herumturnte. Als mein Mann nach Hause kam, ließ ich den Tränen freien Lauf, legte ihm Justus in den Arm und mich ins Bett. Eine Woche später machte ich mich auf den Weg in die Lüneburger Heide für eine vierundzwanzigstündige Familienauszeit: lesen, spazieren gehen, essen, schlafen – nicht sprechen!

Am nächsten Tag fuhr ich mit aufgeladenen Batterien und voller Vorfreude auf meine Lieben wieder nach Hause. Die kurze Pause hatte mir gutgetan. Und zum Glück hatte ich einen Ehemann, der mich und mein Bedürfnis nach Ruhe verstand und unterstützte. Von außen wurde mein Handeln allerdings eher misstrauisch betrachtet. Vor allem von anderen Müttern. "Wie kannst du nur ohne deine Familie wegfahren?", hörte ich. Oder: "Hat dein Sohn dich nicht schrecklich vermisst?“ Und: "Ich würde ja nie ohne meine Familie wegfahren." Als wäre mir das Wegfahren leichtgefallen!

Doch müssten die anderen Mütter nicht am besten wissen, wie schwierig es manchmal ist, die eigenen Bedürfnisse zu ignorieren, weil das Kind erst mal davon abgehalten werden muss, Hundefutter oder Blumenerde zu verspeisen, CDs als Flugwurfgeschosse zu nutzen oder vom Fensterbrett zu stürzen?

Zeit für mich, um Kraft zu tanken

Aber ich war keineswegs immun gegen die Vorwürfe, die zielsicher mein Gewissen trafen: Eine liebende Mutter tut so etwas nicht! Trotzdem habe ich mir auch in den nächsten Jahren, mit zwei, drei und vier Kindern, immer wieder kleine Alltagsfluchten gegönnt. Weil ich danach aufs Neue große Lust hatte aufs Mama-Sein und mir dadurch regelmäßig klar wurde: Genau das muss ich als liebende Mutter für mich tun.

Ich nahm mir die "Me-Time" aber auch, weil ich eben nicht nur Mutter bin, sondern auch Frau, Geliebte, Kollegin, Freundin, Mensch, ich selbst. Aber wer sich öffentlich dazu bekennt, dass ihn Kinder manchmal auch stören, landet heute sehr schnell in einer Schublade.

Womit haben Menschen zu kämpfen, die das Tabu brechen, dass Kinder immer und überall dazu- und hingehören? Eine Hotelmanagerin vertraute mir einmal an: "Wir haben unser Hotelkonzept der Nachfrage angepasst und auf Adults only umgestellt. Aber Sie ahnen ja nicht, was diese Entscheidung für einen Shitstorm ausgelöst hat. Ich werde per E-Mail sogar als blöde Sau und Kinderhasserin beschimpft, obwohl ich selbst vier Kinder habe. Und wissen Sie, was das Verrückteste ist? Bei mir fragen besonders viele Eltern an, die mal ein paar Tage Urlaub ohne ihren Nachwuchs verbringen wollen."

Ich empfand es einerseits als sehr beruhigend zu erfahren, dass ich keineswegs die einzige Mutter war mit dem Bedürfnis nach kinderfreien Zeiten, andererseits war ich total erschrocken über die ausrastenden Eltern, von denen die Hotelmanagerin erzählt hatte. Hatten diese Mütter mit den Presswehen auch den letzten Funken Toleranz rausgedrückt? Ich verstand das Problem nicht. Es gibt doch in Deutschland jede Menge Möglichkeiten, die extra auf Kinder ausgerichtet sind, wo Eltern entspannt mit ihren kleinen Kindern essen, trinken, klönen, spielen können. Und an solchen Orten habe ich mich mit meinen Kindern immer viel wohler gefühlt als in Restaurants, wo ich ständig auf der Hut sein musste, dass sie nicht die anderen Gäste störten.

Was ist los mit diesem Mütter-Shitstorm? Ein Vergleichsversuch:

Wenn ich einer Freundin den Klönabend absage, weil ich Ruhe möchte, würde doch auch niemand auf die Idee kommen, deshalb das ganze Konzept Frauenfreundschaften infrage zu stellen. Warum aber kochen die Gemüter so schnell hoch, wenn es um Kinder geht? Warum ist Frauen beim Thema Kinder keinerlei Zwiespältigkeit erlaubt? Wieso wird jemand, der einfach mal seine Ruhe haben will, als Kinderhasser verschrien?

Früher habe ich mich manchmal zwischen den tobenden Jungs aus Verzweiflung im Gästeklo eingeschlossen, um in Ruhe, von Klodeckel zu Klodeckel, mit einer befreundeten Mutter zu telefonieren. Und ich habe auch Männer erlebt, die sich mit Laptop oder Buch dort einschlossen. Einmal habe ich sogar an die WC-Tür geklopft, da ich dachte, mein Mann hätte vielleicht eine überraschende Herzattacke erlitten, weil er über eine Stunde verschwunden war. Und hinter vorgehaltener Hand erzählte mir neulich der Mann einer Freundin, dass es Tage gebe, an denen er so erschöpft von der Arbeit sei, dass er keine Kraft mehr für die Kinder habe und nach Feierabend so lange um den Block fahre, bis im Kinderzimmer das Licht ausgegangen sei.

Ist es in einer solchen Situation denn nicht normal, ab und zu von einer ordentlichen Wohnung zu träumen oder von einem kinderfreien Nachmittag im Café oder in der Wellness-Oase?

Ich bin ja auch absoluter Hundefan. Und wir alle lieben unseren Jagdhund Carlo von ganzem Herzen, aber: Wenn er den Mülleimer auseinandernimmt, während ich in der Badewanne liege, und die Küche aussieht wie ein Schlachtfeld, oder wenn er beim Joggen abhaut, um hinter einer Hecke eklige Essensreste zu vertilgen, überkommen mich kurzfristig Gefühle, über die ich selbst erschrecke, bis wir am Abend wieder zusammen auf dem Sofa liegen.

Warum muss man sich immer entscheiden?

Ambivalenzkonflikt heißt das, woran ich dann "leide". Darüber las ich neulich einen spannenden Artikel in einem Frauenmagazin und erfuhr, wie vielfältig Dilemmas dieser Art sind. Ich möchte gesünder leben, kann aber nicht auf meine Schokolade verzichten. Ähnliches gilt auch für die elementaren Lebenswünsche: Ich sehne mich nach einem Partner, habe aber gleichzeitig Angst davor, meine Freiheit zu verlieren. Ich möchte hartnäckig an meiner Karriere arbeiten, aber auch mehr Zeit für die Familie haben.

Bei mir gehört dazu, dass ich unbedingt mit Kindern leben möchte, aber auch meinen individuellen Freiraum brauche. Also, noch mal die Frage: Warum werden, was Kinder angeht, die unterschiedlichen Gefühle weniger toleriert als in anderen Bereichen? Warum gilt beim Thema Kinder oft das Prinzip "Alles oder nichts"? Entweder, ich bekenne mich ohne jegliches Murren für das ganze Kinderpaket, oder ich entscheide mich komplett dagegen.

Die Botschaft des Artikels: Nicht alle Fragen oder Zwiespalte unseres Lebens lassen sich lösen. Lerne zu akzeptieren und auszuhalten, dass es im echten Leben Situationen und Gefühle gibt, für die keine Patentlösung existiert. Auch wenn in unseren Köpfen irgendwo tief vergraben noch das alte Rollenbild rumdümpelt: Eltern, vor allem Mütter, sind stets aufopferungsbereit und denken zuletzt an sich selbst.

Zugegeben: Auch ich verließ damals mit meinem Baby auf dem Arm verklärt den Kreißsaal, um fortan mein Mutter-Märchen zu leben à la: Und der Prinz und die Königinmutter waren glücklich und liebten sich bis ans Ende ihrer Tage. Allerdings landete ich, nachdem die Flut der Geburts-Glückshormone abebbte, bald in der Realität: schlaflose Nächte, Augenränder, die täglich dunkler wurden, und ein Mann, der nachts immer öfter aufs Sofa flüchtete, um wenigstens ein paar Stunden Schlaf zu finden. Zwischen Wickeltisch und Windeleimer spürte ich plötzlich: Ich bin ja auch noch da! Ich will wieder Sekt trinken, auch mal mit Freundinnen tanzen gehen und mit meinem Partner unsere Liebe feiern. Egal ob in der Horizontalen oder beim Italiener. Doch nie gab es einen Moment, indem ich meine Mutterschaft bereut hätte.

Mütter sind doch auch nur Menschen

Warum sollten Frauen durchs Kinderkriegen zu Heiligen, nein, Supermuttis werden? Egal ob ohne Schlaf, ohne Partner, ohne Sex, ob mit 40 Grad Fieber und Milchflecken auf der Bluse nie müde, immer voll da, immer zufrieden und glücklich sein?

Wichtig ist doch nur, hinzuschauen, die Bedürfnisse anderer Menschen zu tolerieren und gleichzeitig auf die eigenen zu hören: Mal finde ich es klasse, wenn die Jungs bis spät am Abend bei meiner Freundesrunde dabei sind, manchmal genieße ich Zweisamkeit mit Freundin, Partner oder auch eine Auszeit ganz mit mir allein. Denn irgendwo zwischen pro und kontra Kindern im Restaurant und all diesen Ambivalenzen findet das echte lebendige Leben statt, oder?

Buchtipp: "Ist das verboten oder darf ich das?"

Adrienne Friedländer: Buchcover
© PR

Mehr über angebliche Tabus und wie man sie am besten bricht liest du in Adrienne Friedlaenders Buch "Ist das verboten oder darf ich das? Eine fröhliche Anregung zum Regelnbrechen", 15 Euro, blanvalet.

Dieser Artikel ist ursprünglich bei BRIGITTE.de erschienen.


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